# taz.de -- Kommentar Wahlkampf in Deutschland: Deutschland, du hast es besser | |
> Wahlkampf langweilig, Demokratie intakt: Merkel und Schulz agieren in | |
> einem intakten System, nicht in einem reaktionären Zirkus wie in den USA. | |
Bild: Chrchhhh. Gähn: Wahlkampf in Deutschland | |
Man langweilt sich nicht, wenn das eigene Haus brennt. | |
Kommentatoren in ganz Europa sind sich einig, dass der aktuelle Wahlkampf | |
in Deutschland langweilig ist. Wo sind die leidenschaftichen Debatten, wo | |
bleibt die mitreißende Rhetorik, die Spannung? | |
Wenn Ihnen Ihr Wahlkampf langweilig erscheint, dann machen Sie sich keine | |
Sorgen: Ihr Haus brennt nicht. Natürlich wirft der eher maue Wahlkampf | |
zwischen Angela Merkel und Martin Schulz ein Licht auf den Mangel an | |
Vielfalt in der politischen Landschaft – ein Resultat der Großen Koalition. | |
Und doch ist Deutschland das Einzige der führenden westlichen Länder, in | |
dem aktuell zwei KandidatInnen gegeneinander antreten, die sowohl stark als | |
auch moderat, gebildet und respektabel sind – beide haben zudem keine | |
Konzessionen an die Rechtspopulisten gemacht. Dies ist kein Zeichen von | |
Schwäche, sondern zeigt vielmehr die andauernde Stärke der deutschen | |
Demokratie. | |
Meine Beobachtung des deutschen Wahlkampfs hat mir zudem die Augen geöffnet | |
in Bezug auf das zunehmende Scheitern der amerikanischen Vorstellung von | |
Demokratie. Als amerikanische Journalistin, die die Kampagne des Jahres | |
2016 überstanden hat, würde ich Gott weiß was geben für einen langweiligen | |
Wahlkampf. Es ist langweilig, wenn die Kandidaten sich keine Fakten | |
ausdenken. Es ist langweilig, wenn die Kandidaten nicht buchstäblich ihre | |
Schwanzgröße auf der Bühne vergleichen (siehe die Trump-Rubio-Debatte im | |
März). Es ist langweilig, wenn oppositionelle politische Parteien einander | |
respektvoll als politische Gegner behandeln und nicht als Feinde, die es zu | |
vernichten gilt. | |
In den Vereinigten Staaten haben wir derweil unseren Abstieg in die | |
Dysfunktionalität damit gerechtfertigt, dass man eben einen Preis zahlen | |
müsse für die Demokratie. Die Freiheit, so sagen wir uns, gibt es eben | |
nicht umsonst. Und dass Meinungsfreiheit eben so aussieht. Wir zitieren | |
Churchill, um uns selbst zu beruhigen: „Demokratie ist die schlechteste | |
aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen.“ | |
## Reaktionärer Zirkus | |
Wir haben aufgehört, uns vorzustellen, wie ein besseres System aussehen | |
könnte. Aber Politik muss keine Abwärtsspirale sein. Es ist möglich, | |
Politik zu gestalten, die einen zivilisierten Diskurs wahrt, und ein auf | |
Gerechtigkeit basierendes, repräsentatives Regierungssystem. Deutschland | |
hat ein solches, und ich glaube, dass dies einer der Gründe dafür ist, dass | |
der deutsche Wahlkampf so öde wirkt – im Vergleich zu dem Zirkus, der in | |
anderen Teilen des Westens geboten wird: Reaktionäre Ideen, die im Wettlauf | |
um Aufmerksamkeit buhlen. | |
Das deutsche System verfügt über einige bemerkenswerte Elemente von | |
Gerechtigkeit, die dazu beitragen, die politische Vielfalt zu erhalten und | |
den Wählern ein Gefühl von Mitbestimmung und Auswahl zu vermitteln (ein | |
guter Schutzmechanismus gegen Rechtspopulismus) und die zu verhindern | |
helfen, dass die Macht sich ausschließlich auf zwei Parteien verteilt so | |
wie in den Vereinigten Staaten. | |
Das eine ist das Zweistimmenwahlrecht, das jedem Deutschen zugesteht, | |
jeweils einen Kandidaten und eine Partei zu wählen. Das ist hilfreich für | |
solche Wähler, die sich nicht zwingend einer Partei verbunden fühlen, und | |
verhilft ihnen zu mehr Auswahl. Die politische Vielfalt bleibt so eher | |
gewahrt. Vor einigen Wochen sprach ich mit Stefan Liebich, | |
Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke für den Berliner Bezirk | |
Pankow-Prenzlauer Berg. Seit 2009 schon vertritt er den Bezirk im | |
Deutschen Bundestag, nun aber sieht er sich einem wachsendem Druck | |
vonseiten der CDU ausgesetzt, die im Gefolge der Gentrifizierung an | |
Einfluss gewinnt. | |
Seine Strategie besteht nun darin, Wähler von CDU, SPD und Grünen | |
persönlich anzusprechen – auch wenn sie eigentlich niemals Die Linke wählen | |
würden. „Ich kenne einige CDU-Wähler“, sagte mir Liebich, „für die ist… | |
durchaus denkbar, mich zu wählen, weil sie sich sagen: Der Liebich ist | |
irgendwie okay, auch wenn wir seine Partei nicht mögen. Und mit der | |
Zweitstimme wählen sie dann CDU. Das ist die Idee.“ | |
Ohne das Zweistimmenwahlrecht könnte Liebich seinen Sitz im Bundestag | |
womöglich nicht behalten – der Kandidat einer der kleineren Parteien, die | |
dem politischen Geschehen Würze verleihen, würde verschwinden. | |
Das zweite, wunderbare Instrument der Gerechtigkeit ist das deutsche | |
Verhältniswahlrecht, das zur Folge hat, dass die Zusammensetzung der | |
Parteien im Deutschen Bundestag direkt von den Wahlen beeinflusst wird. | |
Dies erscheint mir ein eminent demokratisches System zu sein: Lasst die | |
abgegebenen Stimmen das Ergebnis der Wahl bestimmen. | |
Wenn die Vereinigten Staaten ein solches System hätten, würde unser Politik | |
ganz anders aussehen. Stattdessen verschieben wir ständig die Grenzen der | |
Wahlkreise, um das Mehrheitswahlrecht zu manipulieren. Und da sind noch | |
mehr Missstände, die am Ende hauptsächlich den Republikanern nutzen, sowohl | |
im Repräsentantenhaus als auch im Kongress. Wir alle wissen, dass die | |
Amerikaner Hillary Clinton gewählt haben; sie hat drei Millionen Stimmen | |
mehr geholt als Donald Trump, der trotzdem Präsident wurde. Aber das | |
gleiche passierte auch im Senat. Die Demokraten im Senat erhielten einige | |
Millionen Stimmen mehr als die Republikaner, die dennoch die Mehrheit der | |
Sitze erhalten haben. Auch im Repräsentantenhaus hatten die Republikaner | |
nur 52 Prozent der Stimmen, aber 57 Prozent der Sitze. | |
## Der Wille der Wähler | |
Wenn diese Sitze proportional verteilt worden wären (oder auch schlicht | |
unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, geht es doch bei Wahlen um | |
nichts anderes als die Respektierung des Wählerwillens) hätten die | |
Demokraten die Mehrheit im Senat und hätten die Nominierung des | |
konservativen Neil Gorsuch als Richter am Obersten Gerichtshof verhindert. | |
Auch „Obamacare“ wäre davor geschützt, wieder kassiert zu werden. Das Leb… | |
von Millionen von US-Amerikanern wird nun auf Jahre beeinträchtigt sein, | |
weil das amerikanische Wahlsystem den Willen seiner Wähler einfach nicht | |
berücksichtigt. | |
Und es sind die Republikaner, angeführt von Newt Gingrichs bereits in den | |
Siebziger Jahren begonnener Politik des Sozialabbaus und ermächtigt durch | |
eine disproportionale Repräsentanz in der Regierung, die unsere politischen | |
Normen derart degradiert haben, dass sich Anstand und Moral in Rauch | |
aufgelöst haben. | |
In einem demokratischen Kontext ist Langeweile schlicht ein Inbegriff für | |
Vernunft. Man langweilt sich nicht, wenn das Haus brennt. Deutschland hat | |
sein Haus scheinbar weitestgehend im Griff. Das sollten Sie wertschätzen. | |
Und vergessen Sie nicht, wählen zu gehen. | |
Übersetzung: Martin Reichert | |
23 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Bethany Allen | |
Bethany Allen-Ebrahimian | |
## TAGS | |
Bundestagswahlkampf | |
Krise der Demokratie | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
taz.wahl17 | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
Kim Jong Un | |
Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2021 | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gesundheitsreform in den USA: Obamacare bleibt erstmal | |
Die Abschaffung des Gesundheitsgesetzes ist vorerst vom Tisch. Eine dafür | |
notwendige Mehrheit bekamen die Republikaner mal wieder nicht zusammen. | |
Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? | |
Die USA unterscheiden sich rhetorisch nicht mehr von Nordkorea, der | |
Kapitalismus ist nun mal nicht romantisch, und Piloten haben’s schwer. | |
Debatte US-Demokraten: Jenseits der Selbstkritik | |
Die Eliten der Demokratischen Partei haben nicht nur bei den Wahlen | |
versagt. Auch als Opposition gegen Präsident Trump scheitern sie. | |
Kommentar Wahlrunde im Fernsehen: Treffen sich neun Alphatiere | |
In einer letzten Diskussion bewegten sich die Kandidaten entlang der | |
üblichen Gräben. Immerhin: Gegen Gauland waren alle vereint. | |
Bodo Ramelow über Rechtspopulismus: „Wie in der Weimarer Republik“ | |
Mit aller Macht will die AfD das Parlament als vermeintliche „Schwatzbude“ | |
vorführen, warnt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow. |