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# taz.de -- Analyse zur Faszination der Unwahrheit: Dialog mit der Lüge
> Bettina Stangneth beleuchtet das Lügen und Belogenwerden in ihrem neuen
> Buch raffiniert und unterhaltsam. Es ist aber kein Lügen-Ratgeber.
Bild: Lügen machen lange Nasen – das wusste auch Pinocchio schon, der hier a…
Die Diskussionen über Fake News und „alternative Fakten“ lassen die Lüge …
präsent wie nie zuvor erscheinen. Die digitalen Medien befeuern nicht nur
ihre Verbreitung, sie vereinfachen das Identifizieren der Quellen. Und
meist sind die Lügen genauso schnell vergessen, wie sie für intensiven
Wirbel in sozialen Netzwerken sorgten.
Natürlich kennen wir die Lüge nicht erst seit dem Aufkommen von
Twitter-Kurzmitteilungen. Die Klage über eine verlogene Welt sei so alt wie
die Menschheit selbst, schreibt Bettina Stangneth in ihrem Essay „Lügen
lesen“.
Die Philosophin und Historikerin widmet sich darin allerdings nicht
ausschließlich den Verschwörungstheorien, der Trump-Ära im Weißen Haus oder
absurden Weltansichten. Ohne diese Themen auszusparen, setzt sie ihren
Schwerpunkt auf die Lüge als menschliches Phänomen. Und beleuchtet sie aus
jeglichen erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Perspektiven.
Bezüge zu dem frühen Theologen wie Augustinus von Hippo, Goethe oder
Menschheitsverbrechern wie Hitler oder Eichmann sind darin zu finden. Sie
rechtfertigten die Lüge allesamt mit der Verdopplung des Ichs. Mit diesen
Umschreibungen wie den „zwei Seelen in der Brust“ räumt Stangneth ebenso
auf, wie sie das Lügen als komplexe Fähigkeit hervorhebt. Lügen muss man
können. Es ist eine geistige Leistung. Wir müssen sie im Kindesalter üben,
um die Orientierung, die Wirklichkeit unseres Gegenübers ändern zu können.
Je enger wir die Lüge mit der Wahrheit verweben, desto eher wird sie
funktionieren. Auch diesen Aspekt des gelingenden Lügens lässt die Autorin
nicht aus.
Das Buch liest sich nicht als ausgefeilter Ratgeber zum Entlarven und
Belügen und nur in Teilen als moralisches Plädoyer. Stangneth umkreist auf
ihrem Denkweg immer wieder aufs Neue Geschichten aus der Mythologie,
Erkenntnisse der großen PhilosophInnen und allgemein bekannte Beispiele aus
der Kindheit oder dem Alltag.
## Alternative Realität & parallele Wahrheit
Damit schafft sie es, die theoretischen Absätze mit szenischen
Beschreibungen und historischen Anekdoten aufzulockern. Aus philosophischer
und historischer Sicht lässt sie keine Perspektive auf die Struktur der
Lüge aus. Die abwechslungsreiche und nicht zuletzt aktuelle Betrachtung
macht die Kapitel raffiniert unterhaltsam.
Eine intensive Beschäftigung mit der Lüge gehört seit Jahrzehnten zur
Arbeit Stangneths. Ihre literarische Aufarbeitung der gelungenen
Selbstinszenierung des Nationalsozialisten Adolf Eichmann vor Gericht
(„Eichmann vor Jerusalem“, 2011), der unbehelligt nach 1945 weiterleben
konnte und erst in den 1960er Jahren verurteilt wurde, entsprang bereits
Stangneths Idee von der Lüge.
„Lügen lesen“ ist zudem die Fortsetzung von „Böses denken“, das 2016
erschien. Während sich das Vorgängerwerk mit der menschlichen Gedankenwelt
auseinandersetzt, beschäftigt die Autorin in „Lügen lesen“ unser bewusstes
Handeln im Dialog.
Zum Lügen gehören unweigerlich die Belogenen. Die nicht selten die Augen
vor der Unaufrichtigkeit des Gegenübers verschließen, so eine These der
Autorin. Das kenne jeder, der schon mal Smalltalk geführt habe oder
flüchtig Bekannte auf der Straße getroffen habe. Die klassische Frage nach
dem Wohlergehen der GesprächspartnerInnen ist dabei eher eine nette Floskel
und weniger waches Interesse. Einen ähnlichen Bezug stellt Stangneth im
Hinblick auf das politische Zeitgeschehen her: In „The Post-Truth Era“
schreibt der Autor Ralph Keyes bereits im Jahr 2004 von Begriffen wie
„alternative Realität“ oder „parallele Wahrheit“ in Verbindung mit Per…
wie Donald Trump. Das rasante Vergessen, ist eines der erkennbaren
Phänomene, die die intensive Beschäftigung mit der Lüge hervorbringt.
„Es ist der Traum der Philosophen“, schreibt die Autorin über eine
lügenfreie Welt. Ihr Buch bietet eine Reihe von Denkanstößen von tiefster
Verlogenheit bis zur Aufrichtigkeit. In „Lügen lesen“ lassen sich
vielfältige Ansätze finden, um selbst in den Dialog mit der Lüge zu treten.
15 Sep 2017
## AUTOREN
Verena Krippner
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Fake News
Lüge
Lügen
Wahlkampf
Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Gegenöffentlichkeit
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