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# taz.de -- Kolumne Durch die Nacht: Für 5 Euro gibt’s nur Ramsch
> Früher hat es Spaß gemacht auf dem Flohmarkt in Kisten nach Platten zu
> kramen. Aber seit dem Vinyl-Hype ist Plattensammeln Schwerstarbeit.
Bild: Für Plattensammler brechen harte Zeiten an
Ich bin Schallplattendigger. Also jemand, der ständig im Plattenladen oder
auf dem Flohmarkt rumwühlt in der Hoffnung, Vinylschnäppchen zu machen.
Doch seit überall von der Vinylkultur die Rede ist und das
Schallplattenhören als Teil der angesagten Hygge-Lebensphilosophie
verhandelt wird und in deren Sinne gar zur Erhöhung unserer Lebensqualität
beitragen soll, ist das Diggen kein Spaß mehr, sondern Schwerstarbeit.
Früher bin ich über den Flohmarkt gelatscht und habe entspannt die
Plattenkisten begutachtet. Jetzt stehe ich wie all die anderen Digger am
Wochenende zu grotesk früher Uhrzeit auf, damit ich nicht der Letzte auf
dem Markt bin, und hetze durch die Gegend, um mit den anderen Schritt zu
halten, deren Interesse es ist, unbedingt vor mir jemanden auszumachen, der
ein paar Schallplatten loswerden möchte.
Vinyl boomt einfach. Um die neunzig Plattenläden gibt es wieder in Berlin,
und die Preise ziehen immer weiter an. Neulich fragte ich einen Händler,
wie es eigentlich sein kann, dass bei ihm ein alter Klassiker von David
Bowie – keine Rarität, sondern ein Millionenseller – 50 Euro kosten soll.
Er meinte, Vinyl sei das neue Bitcoin; und so wie sich bei der digitalen
Währung der Kurs über Angebot und Nachfrage definiere, sei es eben auch bei
Schallplatten. Demnach scheint es heutzutage nicht ausgeschlossen zu sein,
dass jemand dazu bereit sein könnte, für „Low“ von David Bowie eine irre
Summe hinzublättern.
Weil der Vinylkurs so weit oben ist, ist das Gerangel um die Ware eben auch
dementsprechend. Ich habe mich schon selbst bei würdelosem Verhalten
ertappt, das dem neuen Konkurrenzdruck geschuldet ist. Eine trostlose
Streiterei darüber, wer nun zuerst an die Kiste randarf – und ich bin
mittendrin in der Auseinandersetzung, die nur kurz vor Handgreiflichkeiten
endet. So wollte ich nie enden.
Das Diggen hat im hart umkämpften Berliner Markt einfach seine Unschuld
verloren. Das Vergnügen, in einer 5-Euro-Kiste eines Plattenladens noch
etwas zu finden, gibt es nicht mehr. Für 5 Euro gibt es heute nur noch
echten Ramsch. Und die Leute interessieren sich für Platten, die sie nicht
kennen, nicht mehr, weil ihnen das Cover so gut gefällt oder ein
Lieblingsmusiker in den Liner-Notes aufgelistet wird, sondern dann, wenn
ihnen die über Smartphone aufgerufene Datenbank mitteilt, gerade etwas von
Wert in Händen zu halten.
Wenn das alles so weitergeht mit dem Vinylboom, steige ich aus. Es lohnt
sich und es geht einfach nicht mehr.
Mit dem Vinyl in Berlin verhält es sich langsam so wie mit der hiesigen
Immobilienbranche. Früher, als sich noch niemand für Eigentumswohnungen
interessierte und die Mieten unten waren, hätte man sich sein eigenes
Habitat kaufen müssen, so lautet heute die Erkenntnis von Millionen
Berlinern. Früher, als Vinyl billig war, hätte man so richtig zuschlagen
sollen. „Low“ war mal eine 10-Euro-Platte. Wie es gerade aussieht, wird es
das so nie wieder geben. Zum Glück für mich gibt es im Netz aber alles
kostenlos. Bei der Wohnsituation fehlt mir leider eine vergleichbare
Ausweichmöglichkeit.
17 Sep 2017
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
Vinyl
Schallplatten
Schwerpunkt Stadtland
Musik
Flohmarkt
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