# taz.de -- Aus dem Norden nach Berlin: „Ich bin ziemlich sauer“ | |
> Julia Verlinden kandidiert als Spitzenkandidatin der Grünen in | |
> Niedersachsen. Ein Interview über die Frage, wieso die Grünen trotz | |
> vergifteter Eier und Diesel-Gate im Umfragetief stecken | |
Bild: Will beim Klimaschutz nicht mehr auf die Bundeskanzlerin warten: Julia Ve… | |
taz: Frau Verlinden, wie steht es mit Ihrem Projekt Weltrettung? | |
Julia Verlinden: Es ist noch viel zu tun. Und es ärgert mich in jeder | |
Legislaturperiode, in der Frau Merkel Kanzlerin ist, dass wir wieder Zeit | |
verlieren. | |
Was wollen Sie denn retten? | |
Woran ich am intensivsten arbeite, sind die Energiewende und der | |
Klimaschutz. Klimawissenschaftler sagen, dass wir in den nächsten Jahren | |
endlich reagieren müssen, wenn wir die Klimaschutzvereinbarung von Paris | |
ernst nehmen und unter einer durchschnittlichen Erwärmung von 1,5 bis zwei | |
Grad bleiben wollen. Dafür müssen wir mit dem Kohleausstieg in Deutschland | |
sofort anfangen. | |
Und wenn nicht? | |
Dann wird es Extremwetterereignisse wie gerade in Südniedersachsen | |
häufiger geben. | |
Die Umfragewerte der Grünen sind ausbaufähig, geschätzt liegen sie bei 6,5 | |
Prozent. Wie kommt es, dass so wenig Menschen Lust auf Ihr Projekt | |
Weltrettung haben? | |
Mit den Umfragewerten mache ich mich nicht so jeck. Wir haben in den | |
letzten Jahren gesehen, dass die Demoskopen manchmal ziemlich danebenlagen. | |
Ich glaube im Gegenteil, dass sehr viele Menschen an unseren Themen | |
Interesse haben. Wenn wir uns Umfragen zu diesen Themen angucken, zeigen | |
die, dass viele Menschen in Deutschland den Kohleausstieg angehen wollen, | |
genau wie ein Fracking-Verbot und einen stärkeren Ausbau der erneuerbaren | |
Energien. | |
Und trotzdem wollen die nicht die Grünen wählen. | |
Das wird sich am Wahltag zeigen. Ein Großteil entscheidet erst sehr | |
kurzfristig. Weil die Grünen schon so lange an diesen Themen arbeiten, gibt | |
es natürlich mittlerweile Kräfte, die auch so tun, als ob sie sich um | |
Klimaschutz kümmern. Klar ist aber, dass CDU und SPD in der Umweltpolitik | |
massiv bremsen. | |
Auch die aktuellen Ereignisse müssten Ihnen eigentlich in die Hände | |
spielen. Vergiftete Eier, schmutzige Diesel. | |
Wir wollen als Grüne deutlich mehr als das, was beim Diesel-Gipfel | |
herausgekommen ist. Das ist eine Frechheit. In puncto Mobilität sind wir | |
die Partei, die ein klares Alternativkonzept vorgelegt hat. Wir wollen | |
abgasfreie Elektrofahrzeuge, eine bessere Versorgung mit öffentlichen | |
Verkehrsmitteln und wir wollen mehr für den Fahrradverkehr tun. | |
Angela Merkel ist gegen Hardware-Updates für Dieselautos. Warum kritisieren | |
Sie das? | |
Es ist Aufgabe der Politik, den Autoherstellern die politischen | |
Rahmenbedingungen zu setzen. Frau Merkel und Herr Dobrindt dürfen diese | |
Machenschaften nicht decken. Hardware-Updates sind wegen der zu kleinen | |
Harnstofftanks notwendig. Wenn die Bauteile an einem Fahrzeug darauf | |
ausgelegt sind, dass sie die Stickoxide nicht kontinuierlich abspalten und | |
aufnehmen, kann ein Software-Update allein nichts daran ändern. | |
Wie stehen Sie zu Fahrverboten für Dieselautos? | |
Die sind das letzte Mittel, was man aber anwenden muss, damit die Menschen | |
zu ihrem Recht auf saubere Luft kommen. Die Software-Updates werden nicht | |
reichen, um die Fahrverbote, die das Verwaltungsgericht in Stuttgart für | |
nächstes Jahr angedroht hat, zu verhindern. Die Autohersteller müssen Geld | |
in die Hand nehmen. Sie haben in den vergangenen Jahren ja auch Gewinne | |
gemacht und an ihre Aktionäre ausgeschüttet. | |
Warum kritisieren Sie eigentlich die Erdgasförderung in Niedersachsen? | |
Wir Grünen wollen eine Energieversorgung, die ausschließlich aus | |
erneuerbaren Energien besteht. Das ist im Stromsektor bis 2030 realistisch, | |
im Wärmesektor bis 2040. Erdgas verursacht bei der Verbrennung auch | |
Kohlenstoffdioxid und wenn bei dem Förderprozess etwa Methan entweicht, | |
geht das direkt in die Atmosphäre. Hinzu kommen Gesundheitsrisiken durch | |
die Förderung vor Ort. | |
Und für den Übergang? | |
Klar brauchen wir noch eine Weile das Erdgas. Aber wir Grünen haben zum | |
Beispiel gefordert, dass es nicht mehr in Schutzgebieten gefördert wird. | |
Das hat die große Koalition aber nicht interessiert. Wenn wir in | |
Deutschland unter diesen Bedingungen weiter Erdgas fördern, dann ist damit | |
zu rechnen, dass das auch weitere umweltbelastende oder gesundheitliche | |
Auswirkungen hat. Außerdem brauchen wir ein Fracking-Verbot. | |
Auch Windkrafträder haben Auswirkungen, gegen die vielerorts Menschen | |
protestieren. Saßen Sie schon einmal auf einer Terrasse, auf der immer | |
wieder die Schatten der Rotorblätter vorbeigehuscht sind? | |
Ich war schon oft in der Nähe von Windrädern. Was ich gut finde, ist, wenn | |
sich Kommunen selbst überlegen, wie sie die Energiewende vor Ort umsetzen | |
wollen und mit den Menschen diskutieren. Was ich nicht nachvollziehen kann, | |
ist, wenn sich BürgerInnen gegen Windräder aussprechen, aber keine | |
Alternativen anbieten. | |
Woher beziehen Sie denn Ihren Strom? | |
In Lüneburg zu Hause habe ich Naturstrom und in meiner Berliner Wohnung | |
Greenpeace Energy und eine Mini-Solaranlage auf meinem Balkon. Mit den 150 | |
Watt kann ich mein Handy aufladen; der Kühlschrank und das Modem laufen | |
damit. Das ist ein ganz kleines System, dass man einfach an die Steckdose | |
anschließt. | |
Fahren Sie denn nie eine unnötige Strecke mit dem Auto oder tragen ein zu | |
billiges T-Shirt? | |
Ich achte schon darauf, wie ich lebe. Ich bin im April mit meinem Mann mit | |
dem Zug nach Portugal gefahren. Das hat noch nicht mal zwei Tage gedauert. | |
Trotzdem muss klar sein, dass wir die Ziele, die wir im Umweltschutz haben, | |
nicht allein dadurch erreichen, dass Menschen sich in ihrem persönlichen | |
Alltag besonders umweltfreundlich verhalten. Wir brauchen politische | |
Rahmenbedingungen – auch für die Industrie. | |
Warum haben Sie angefangen, Politik zu machen? | |
Es hat mich immer geärgert, dass es Parteien gibt, bei denen ich den | |
Eindruck gewinne, die Zukunft sei weniger wichtig als die Gegenwart. Und | |
dass sie Menschen, die jetzt noch kein Wahlrecht haben oder die auf anderen | |
Kontinenten leben, aber in hohem Maße von unseren Entscheidungen betroffen | |
sind, wenig in ihre Überlegungen einbeziehen. Bei den Grünen ist das | |
anders. | |
Gab es für Sie da ein Schlüsselerlebnis? | |
1986, als der Atomunfall in Tschernobyl passiert ist, haben meine Eltern | |
mich zu meiner ersten Demo mitgenommen. Da war ich sieben. Es hat mich | |
damals geärgert, dass ich nicht mehr die Johannisbeeren essen oder in den | |
Garten durfte. Mit der BUND-Jugend haben wir später Fahrrad-Demos | |
organisiert. Als wir zum ersten Mal über die Autobahn gefahren sind, weil | |
die Polizei ein Stückchen für uns abgesperrt hatte, dachte ich, ich könnte | |
die Welt auf den Kopf stellen. Zu den Grünen bin ich erst während meines | |
Studiums gekommen. | |
War es ein Karriereziel für Sie, Bundestagsabgeordnete zu werden? | |
Nein, zu dem Zeitpunkt nicht. Ich habe mich erst einmal in der | |
Kommunalpolitik engagiert und in diesen neun Jahren viel gelernt. | |
Wie viel Zeit stecken Sie in die Politik? | |
Alle. Es gibt kaum Hobbys, die ich nebenbei betreiben kann. Als ich 2013 in | |
den Bundestag gewählt wurde, habe ich einen Auftrag von den WählerInnen und | |
meiner Partei bekommen. Und ich hatte vier Jahre Zeit, so viel zu geben, | |
wie ich kann. | |
Und trotzdem können Sie in der Opposition nur wenig durchsetzen. | |
Ja, ich bin ziemlich sauer, wenn Abgeordnete der großen Koalition so tun, | |
als hätten sie alles im Griff mit dem Klimaschutz. Denn es reicht nicht. | |
Aber trotzdem können wir etwas in der Opposition bewirken. Beispiel: Ehe | |
für alle. Das hat eine ziemliche Dynamik entwickelt, nachdem wir auf | |
unserem Parteitag beschlossen haben, dass wir sie zur Bedingung für eine | |
Koalition machen. | |
10 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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