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# taz.de -- Wanderung bis zum Mittelmeer: Wir fühlen uns schlecht
> Erst sind es nur Irritationen am Wegesrand, dann ist es Gewissheit:
> unterwegs auf früheren Wanderrouten afrikanischer Flüchtlinge.
Bild: Blick auf's Mittelmeer und auf die französische Stadt Menton
Schon lange vorgehabt: nach Nizza zu fliegen. Mit dem Zug ins Bergdorf
Sospel fahren. Von dort aus die letzte Etappe der „Grande Randonnée du
Mercantour“ bis zum Mittelmeer gehen, jenen märchenhaften Großtrekkingweg,
der in 16 Tagen die wilden Seealpen durchmisst und durch das Vallée de la
Roya nach Menton an der italienisch-französischen Grenze zur Côte d’Azur
führt, Italien oft nur einen Berg entfernt.
Siebeneinhalb Stunden sind angegeben, über 1.000 Meter An-, mehr als 1.400
Meter Abstieg. Nichts für Anfänger, aber machbar, sind wir überzeugt.
Als wir kurz nach dem ersten schattenlosen Anstieg ein paar Stoffturnschuhe
im Graben sehen, denke ich noch nichts. Als beim ersten Wegweiser zwei
Kilometer weiter ein brasiliengelbes Synthetik-Shirt ausgebreitet auf einem
Stein liegt, bin ich irritiert. Als wenig später eine Unterhose über die
stachelige Macchia gespannt ist, machen wir Scherze über Nacktwanderer und
Krimi-Reenactments.
Wie bestellt, hängt beim ersten von drei Gipfelanstiegen am Col de Razet
eine braune, staubige Hose über dem GR-Schild. Noch kommen wir uns wie
Helden vor und beglückwünschen uns zur sensationellen Fitness, als wir nach
vier Stunden Wanderung und ein paar Kleidungsstücken mehr an einen Garten
kommen, an dem ein Schild auf Französisch, Deutsch und Italienisch zur Rast
einlädt.
## Migranten aus Sudan und Eritrea
Ein Sofa unter gespanntem Tuch, im Schatten warten semiwarmes Bier, Molke,
selbstangebaute Beeren als Erfrischung, bezahlt wird, was wir geben wollen.
Eine Glocke auf dem Tisch holt die Deutschfranzösin Christine heran, die
seit drei Jahren mitten im Mercantour als Aussteigerin lebt und quasi
autark Permakultur, also einen nachhaltigen Selbstversorgungsgarten
betreibt. Sie lebt in einer selbstgebauten, nur mit Solarmodul und
Düngetoilette betriebenen Holzhütte, zwei Lamas und ein Hund als Begleiter.
Was für Wanderer denn täglich so in ihre Selbstbedienungsbar kommen, fragen
wir beiläufig, denn wir sind bisher niemandem begegnet. Und dann erzählt
sie, dass es seit zwei Jahren vor allem Migranten aus Sudan und Eritrea
sind, die von Italien aus nach Frankreich über die grüne Grenze wollen und
von der Härte des Aufstiegs überrascht werden, in einem Zustand jenseits
der Erschöpfung.
„Die meisten wollen an die Küste, aber ich versuche sie zu überreden,
weiter in die Berge zu gehen – unten regiert der Front National, in den
Bergen sind die Menschen offener“, sagt sie. In Nizza, Hochburg der rechten
Populisten und reichen Jachtbesitzer, kämen sie ohnehin fast nie an.
Christine erzählt von den völlig fertigen jungen Männern, darunter auch
Frauen mit Kindern, die oft genug ohne Wasser auf ihre Zwangswanderung
gegangen sind. Sie erzählt auch von Cédric Herrou, der nur ein paar
Kilometer weiter oben auf seinem Biobauernhof Hunderte von Flüchtlingen
beherbergt, dafür bereits sechsmal im Gefängnis saß und selbst in der New
York Times als Widerstandskämpfer gefeiert wird.
## Wüste ohne Ausweg
Erst jetzt fällt uns ein, was die Kleiderhaufen auf der Route bedeuten:
Flüchtlinge haben sich ihrer dreckigen, schweren Kleidung entledigt oder
Wandermarken gesetzt. Ein Gefühl von Scham überkommt mich für meine
Lifestyle-Wanderqual, bei der wir schon vier Liter Wasser verbraucht haben.
Wir, die wir uns schon am Ziel glaubten, werden nun doch böse überrascht
von der Anstrengung, die noch kommen wird.
Zwar sieht man das Meer nun in der Ferne, aber als wir nach vier weiteren
Stunden unten ankommen, humpeln wir nur noch. Währenddessen hängen immer
mehr Rettungswesten in den Zäunen, häufen sich verlassene Lager mit
Zahnbürsten, Rasierschaumdosen und haufenweise Kleidung. Was für uns ein
Wellness-Traum aus sattblauem Meerblick und heiß-holzigem Nadelduft ist,
erscheint anderen als eine Wüste ohne Ausweg.
Als wir entkräftet am Bahnhof von Menton vorbeischlurfen, um endlich am
Meer ein kühles Bier zu trinken, sehen wir erst die Polizeiautos, dann sie:
junge, schwarze Männer, kaum über 20, umzingelt von französischen CRS,
sitzen auf dem Riviera-Bahnhof. Jeder Zug aus Ventimiglia hat nun
fahrplanmäßig zehn Minuten Aufenthalt, um gefilzt zu werden, sie finden
immer jemanden. Die Toiletten sind auf dieser Strecke geschlossen, damit
sich niemand versteckt.
„Wir schicken sie gleich nach Ventimiglia, die sind irregulär in
Frankreich, aber sie kommen eh morgen wieder“, sagt ein CRS zu uns, als wir
fragen, ob sie Wasser kriegen, und hört sich an wie bei einer sportlichen
Herausforderung. Mit den auffällig gut gekleideten Männern selbst versuchen
wir auch zu sprechen, sie sitzen direkt neben dem Fahrkartenautomaten. Doch
sie schauen durch uns hindurch, als sei es zu aussichtslos, dass sich die
Parallelwelten an diesem Ort berühren.
Am gleichen Tag wird Cédric Herrou mit 150 Migranten in Cannes
aufgegriffen, weil er mit ihnen in Marseille Asyl beantragen wollte, und
erneut vor Gericht gestellt. Amnesty International verurteilt genau an
diesem Tag die französische Praxis der Asylverhinderung als zynisch und
illegal. Wir baden eine Runde im Mittelmeer und fühlen uns schlecht.
12 Aug 2017
## AUTOREN
Dorothea Marcus
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