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# taz.de -- 200 Jahre Kaleidoskop: Der erste Medienhype der Welt
> Formen gestalten wie am Computer, durch die Gegend laufen wie mit einer
> Virtual-Reality-Brille: Das Kaleidoskop ist das Ur-Gadget.
Bild: Heute ist es vor allem als Spielzeug bekannt. Dabei ist es doch so viel m…
„Der Geschichtsverlauf, wie er sich unter dem Begriffe der Katastrophe
darstellt, kann den Denkenden eigentlich nicht mehr in Anspruch nehmen als
das Kaleidoskop in der Kinderhand, dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu
neuer Ordnung zusammenstürzt … Die Begriffe der Herrschenden sind allemal
die Spiegel gewesen, dank deren das Bild einer ‚Ordnung‘ zustande kam. Das
Kaleidoskop muss zerschlagen werden.“ Walter Benjamin: „Zentralpark“
Goethe wäre nicht Goethe, wenn er nicht zu allem etwas zu sagen gehabt
hätte. Auch zu einem neuen Gerät, das 1817 gerade dabei war, sich zum
ersten tragbaren, megahippen Medienmaschinchen der Menschheitsgeschichte zu
entwickeln: das Kaleidoskop. Heute gilt es vorwiegend als Kinderspielzeug,
und auch in der Medien- und Technikgeschichte wird es eher gering
geschätzt. In einem Brief schrieb Goethe: „In Frankfurt verkauft man ein
optisches Instrument von Ansicht wie eine kurze Tubusröhre; indem man
durchsieht, erblickt man farbige, regelmäßige Bilder … Es ist eine Londoner
Erfindung, den Namen wüsst ich nicht recht anzugeben, in einem Briefe
dechiffriere ich Kaleidoskop …“
In Film- und Technikmuseen konzentriert man sich heute lieber auf die
Camera obscura, die als Ursprung der Fotografie gilt, oder die
Wundertrommel oder Laterna magica, die als Vorläufer des Kinos betrachtet
werden. Aber eine Röhre, die das Bild vor dem Objektiv mit Hilfe mehrerer
Spiegel zu ebenmäßigen, geometrischen Mustern organisiert, die sich
ununterbrochen ändern, wenn man das Ding dreht? Das ist wohl eher
eskapistischer Zeitvertreib, eine Art Virtual Reality des 19. Jahrhunderts
– heute cool, morgen vergessen.
David Brewster, der das Kaleidoskop erfand, vermarktete sein Gerät damals
allerdings wie ein Start-up-Gründer unserer Tage mit einer Rhetorik, als
habe er da gerade eine alles revolutionierende Innovation gelauncht. In
seinem Patentantrag, der am 27. August 1817 (nach anderen Quellen bereits
im Mai oder Juli des Jahres) vom schottischen Patentamt bewilligt wurde,
betonte der schottische Physiker die Einzigartigkeit der Bilder, die seine
Erfindung hervorbringen würde: Das Kaleidoskop sei „ein Instrument, mit dem
man eine unendliche Anzahl ansehnlicher Formen erschaffen und zeigen kann,
und ist so konstruiert, dass es durch eine sich ununterbrochene wandelnde
Abfolge von herrlichen Farbtönungen und symmetrischen Formen das Auge des
Betrachters erfreut.“ Der Name, den Brewster seiner Erfindung gab,
kombiniert die griechischen Wort für Schönheit (kalós), Form (eidos) und
Betrachten (skopéin) – das Kaleidoskop ist also ein Gerät zur Betrachtung
von schönen Formen.
## Maschinell unterstützte Kreativität
Doch die Bilder, die das Kaleidoskop hervorbringt, seien nicht nur schön
anzusehen, sondern hätten auch einen praktischen Nutzen, versprach
Brewster. Sie würden Kreativität maschinell unterstützen, schreibt er in
seinem Patentantrag: Das Kaleidoskop könnte unter anderem folgenden
Gewerben gute Dienste leisten: „Architekten, Dekorationsmaler, Stuckateure,
Goldschmiede, Schnitzer und Vergolder, Möbeltischler, Buchbinder,
Kattundrucker (Stoffdrucker, Anm. d. Red.), Teppichweber, Töpfer und jede
andere Profession, bei der Muster eine Rolle spielen.“
Die Gestalter sollten einfach so lange am Kaleidoskop drehen, bis ihnen
dieses ein Muster lieferte, welches gefiel und als Design eines Werkstücks
verwendet werden konnte. So betrachtet war das Kaleidoskop mehr als ein
hübsches Spielzeug, nämlich eine frühe Methode, Kreativität technisch zu
unterstützen; der Beginn einer „apparativen Kunst“, wie Herbert W. Franke
und Gottfried Jäger in ihrem gleichnamigen Buch schreiben, und damit
letztlich ein Vorläufer von Photoshop-Filtern und anderen digitalen
Gestaltungsmitteln der Gegenwart. Denn das Kaleidoskop ist ein zutiefst
interaktives Medium: Was es zeigt, entsteht aus einer Zusammenarbeit von
Mensch und Apparat, und sein Nutzer ist immer zugleich Konsument und
Produzent von Bildern. Darin ähnelt er dem Nutzer von Grafikprogrammen und
anderen Gestaltern, die sich bei der Arbeit technischer Hilfsmittel
bedienen.
Da im 19. Jahrhundert Wände, Fassaden und Stoffe mit aufwendigen
Dekorationen versehen wurden, sah Brewster hier wohl eine Chance zur
„Disruption“ einer ganzen Industrie, wie man das im Zeitalter von Amazon
oder Uber nennen würde – und für sich die Chance, zu einem begüterten
Erfinder-Unternehmer à la Bill Gates zu werden. So wie heute Amazon den
Einzelhandelsverkäufer und Onlinebanking den Schalterbeamten überflüssig
machen könnten, so sollte das Kaleidoskop den Gestalter von Mustern durch
ein technisches Mittel ersetzen.
Doch auch wenn das Kaleidoskop ein rasender Erfolg wurde – es machte David
Brewster nicht zum Tech-Millionär. Das Patent, das er vor 200 Jahren
erteilt bekam, nützte ihm in der Praxis nichts. Er beging den Fehler, seine
Erfindung schon vor Patenterteilung Linsenschleifern und Optikern in
England zu zeigen, denen er das Gerät verkaufen wollte. Doch weil der
Apparat nicht schwer zu bauen war, wenn man erst einmal seine
Funktionsweise verstanden hatte, waren erste Kopien schon im Handel, bevor
Brewster seine Patenturkunde ausgehändigt bekam.
## Wer hat's erfunden?
Schon 1817 sollen in London und Paris Hunderttausende Kaleidoskope verkauft
worden sein; Brewster selbst setzte allerdings nur einige tausend ab. So
musste der Erfinder zwei Dinge lernen, die im Internetzeitalter zum Mantra
der Ökonomie geworden ist: Die Schnellen fressen die Langsamen. Und sein
geistiges Eigentum kann man gar nicht gut genug schützen. Allerdings ist
Brewsters Urheberschaft des Kaleidoskops zumindest mit Vorsicht zu
genießen: Die zugrunde liegenden Prinzipien hatten unter anderem die
Renaissance-Gelehrten Giambattista della Porta und Athanasius Kircher
beschrieben, auch die Chinesen und die Altägypter scheinen das Prinzip der
multiplen Reflexion, auf dem das Kaleidoskop basiert, bereits gekannt zu
haben. In Deutschland hatte der Nürnberger J. B. Bauer schon 1798 ein
„optisches Strahlenkästchen“ gebaut, in dem gemalte und ausgeschnittene
Figuren an Spiegeln vorbeigeschoben wurde. Die deutsche Wikipedia nennt
Brewster darum korrekterweise den „Wiederentdecker des Kaleidoskops“.
Der Hype, den der Apparat auslöste, erinnert an neuere
Medienmassenphänomene vom Walkman über iPod und Smartphone bis zu Nintendo
Go. Jeder wollte auf einmal so ein Ding haben. Auf Bürgersteigen wurden
Kaleidoskope auf Stativen aufgestellt, in die man für einen Penny einen
Blick werfen durfte. Für das Bürgertum wurde eine in Metall oder Leder
ausgeführte Version zum „must-have item“ für den Salon, für Damen gab es
mit Juwelen besetzte Mini-Kaleidoskope als Unterhaltung auf Reisen.
In der Presse erschienen Berichte über Knaben, die mit dem Kaleidoskop vor
dem Auge in Wände liefen oder in Unfälle mit Radfahrern verwickelt wurden.
(Die Draisine, ein Vorgänger des Fahrrads, war im selben Jahr auf den Markt
gekommen.) Ein anonymer Statistiker rechnete für eine britische Zeitung
aus, dass man ein Kaleidoskop mit zwanzig Glassteinchen mehr als 300
Millionen Jahre drehen musste, bis man alle möglichen Bildvariationen
gesehen habe, andere Blätter veröffentlichten Gedichte über das neue
Medium.
## Reich wurde er nicht
Das Kaleidoskop war das Ur-Gadget, das erste einer ganzen Ahnenreihe von
„philosophischen Spielzeugen“, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden.
Diese Mechanisierung des Sehens begann mit dem Kaleidoskop und wurde
gefolgt von Stereoskop, das für einige Jahrzehnte fast zur Grundausstattung
des bürgerlichen Haushalts gehörte und abends für Unterhaltung und
Belehrung sorgte wie heute Fernseher, Computer, Internet, Netflix. Auch bei
seiner Entwicklung spielte David Brewster ein entscheidende Rolle,
abermals blieb sein finanzieller Profit bescheiden.
Wegen seiner geringen Größe war das Kaleidoskop auch ein frühes mobiles
Medium, wie später Gameboys, MP3-Player oder das Mobiltelefon. Indem es
Bilder der Wirklichkeit technisch überformt und neu organisiert, erinnert
es auch an die „Augmented Reality“, die Unternehmen wie Snapchat oder
Facebook gerade in ihre mobilen Apps integrieren.
Derzeit scheint das Kaleidoskop ein kleines Comeback zu erleben, und zwar
nicht nur in Geschenkboutiquen und Museumsshops. In einer Zeit, in der
erwachsene Menschen nach Feierabend Mandalas ausmalen, um ihre
„Achtsamkeit“ zu trainieren, könnte das Kaleidoskop genau das richtige
Medium sein, um die garstige Umwelt in erfreulich anzusehende Muster zu
zerlegen und sie sich dadurch vom Leibe zu halten. Für hartgesottene
Kaleidoskop-Fans gibt es die internationale Brewster Kaleidoscope Society.
Die kommt im Mai 2018 immerhin bereits zu ihrem 28. Jahrestreffen zusammen,
nach einem Meeting in Tokio im Frühjahr dieses Jahres dann im Peabody Hotel
in Memphis. Es gibt noch Karten.
27 Aug 2017
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
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