| # taz.de -- Debatte Unterrichtsfächer an Schulen: Wirtschaft? Setzen, Sechs! | |
| > In NRW spukt das Schulfach „Wirtschaft“ durch die Flure. Mit der | |
| > Ökonomisierung der ökonomischen Bildung gibt es aber Probleme. | |
| Bild: Manche Probleme lassen sich nicht am Rechenschieber erklären. Das wissen… | |
| Viele wirtschaftswissenschaftliche Mythen halten sich länger als nötig. | |
| Dies gilt für die Vorstellung von einem Homo oeconomicus ebenso wie für | |
| die von den „Selbstheilungskräften des Finanzmarktes“ oder auch die sich | |
| mitunter als realitätsfremd erweisenden Konjunkturprognosen der | |
| Wirtschaftsforschungsinstitute. | |
| Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeit | |
| ökonomischer Bildung und der daraus abgeleiteten Forderung nach einem | |
| Unterrichtsfach „Wirtschaft“. Unternehmen, Wirtschaftsverbände sowie | |
| Industrie- und Handelskammern lamentieren beharrlich, Schülerinnen und | |
| Schülern mangele es an ökonomischer Bildung. Dabei ist dieses | |
| Wissensdefizit keineswegs erwiesen. Historisch begründen lässt sich der Ruf | |
| nach mehr ökonomischer Bildung auch nicht. Und als kardinale | |
| Fehleinschätzung erweist sich die Forderung insofern, als ökonomische | |
| Bildung längst integraler Bestandteil der Sozialwissenschaften ist. | |
| Insofern überrascht es, dass die gerade frisch inthronisierte | |
| NRW-Landesregierung nun nach baden-württembergischem Vorbild ein | |
| Separatfach Wirtschaft einführen will. Obschon weder das Wahlprogramm der | |
| CDU noch das der FDP ein Partikularfach Wirtschaft vorsah, soll laut | |
| Koalitionsvertrag demnächst auch im bevölkerungsreichsten Bundesland das | |
| Schulfach Wirtschaft eingeführt werden – also just in dem Bundesland, in | |
| dem der 2011 begonnene Pilotversuch „Wirtschaft an Realschulen“ nicht | |
| weiterverfolgt wurde. Kaum war die Tinte unter dem Koalitionsvertrag | |
| trocken, forderte der Verband Ökonomische Bildung an allgemein bildenden | |
| Schulen (Vöbas) die Einrichtung eigener Lehramtsstudiengänge für das Fach | |
| Wirtschaft, die Etablierung eines Fort- und Weiterbildungssystems sowie die | |
| Entwicklung schulformspezifischer Kerncurricula. | |
| Diese Forderungen verkennen, dass mit der Aufspaltung | |
| sozialwissenschaftlicher Integrationsfächer in die Fächer Politik und | |
| Wirtschaft eine reine Akteurs-, Prozess- und Institutionenkunde droht, | |
| den Schülerinnen und Schülern mithin ein unvollständiges Bild vermittelt | |
| wird. Überdies läuft ein Fach Wirtschaft Gefahr, zu einer Mathematisierung | |
| der formalen Mikroökonomie oder einer betriebswirtschaftlich ausgerichteten | |
| Berufsausbildung zu verkommen. | |
| Wird Ökonomie wie BWL in einem separaten Fach gelehrt, transportiert Schule | |
| vergängliches Spezialwissen. Ökonomische Bildung im Kokon ist die logische | |
| Folge. Soll ökonomisches Wissen mit einem auf lebensweltliche Kontexte | |
| zielenden Allgemeinbildungsanspruch verbunden werden, ist das Festhalten an | |
| dem bundesweit etablierten Fach Sozialwissenschaften alternativlos. Nur | |
| im interdisziplinären Kontext kann ökonomische Bildung befördert und | |
| ökonomistische Verbildung vermieden werden. | |
| ## Zuerst fachliche Qualifikation der LehrerInnen sichern | |
| Das Beispiel des Kaffeekonsums verdeutlicht, welche unterschiedlichen | |
| Facetten sozioökonomische Bildung als multidisziplinärer Forschungsansatz | |
| beleuchten kann: Aus soziologischer Perspektive lässt sich Kaffeetrinken | |
| als soziales Arrangement begreifen (Wollen wir uns auf ein Kaffee treffen?) | |
| sowie als Distinktionsmerkmal (Fair-Trade-Kaffee statt Filterplörre) oder | |
| als kulturelle Praktik (wie das Teetrinken in Großbritannien) analysieren. | |
| Mit Blick auf die ökonomische Dimension sind die für Produktion, Transport | |
| und Vertrieb des Kaffees erforderlichen Wirtschaftsbeziehungen in den Blick | |
| zu nehmen. | |
| Der Ruf nach mehr ökonomischer Bildung klingt im langen Schatten der | |
| Finanzkrise auch dann abwegig, wenn man bedenkt, dass es die mit höchsten | |
| akademischen Weihen ausgezeichneten Ökonomen waren, die als Analysten, | |
| Banker und Berater den Kollaps des Weltfinanzsystems auslösten. Liefen | |
| nicht erfahrene Fondsmanager noch wie die Lemminge in dieselbe Richtung, | |
| als die rasante Achterbahnfahrt an der Börse ihren Scheitelpunkt längst | |
| erreicht hatte? | |
| Und getreu dem Credo „First things first“ wäre zunächst einmal das Problem | |
| des fachfremden Unterrichts zu lösen: In zahlreichen Bundesländern | |
| unterrichten mehr als die Hälfte der Lehrer die Fächer | |
| Sozialwissenschaften, Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Gesellschaftslehre | |
| oder Politik/Wirtschaft ohne entsprechende Fakultas, also ohne | |
| Lehrbefähigung. Die Qualität von Bildungsangeboten hängt aber bekanntlich | |
| vor allem von der fachlich einschlägigen Qualifikation der Lehrkräfte ab. | |
| Diese Misere sollten die Schul- und Kultusministerien zunächst beheben. | |
| ## Haste Mathe? Oder Wirtschaft? | |
| Die Einführung des Fachs Wirtschaft wird zulasten der politischen Bildung | |
| gehen. Demokratisches Bewusstsein muss nämlich Tag für Tag neu erworben | |
| werden. Natürlich kann die Tatsache, dass alle 15 Sekunden ein Kind an | |
| Hunger stirbt, ökonomisch erklärt werden (u. a. mit Marktasymmetrien, die | |
| sich bei einer Überproduktion von Nahrungsmitteln herausgebildet haben). | |
| Aber zu einem belastbaren Urteil kommen Schülerinnen und Schüler erst dann, | |
| wenn sie die Kolonialgeschichte kennen, um die Marktmacht der | |
| Lebensmittelproduzenten wissen und die Subventionspolitik der Europäischen | |
| Union im Agrarsektor entschlüsselt haben. | |
| Und auch wenn man begreifen will, welche Auswirkungen die Wirtschafts-, | |
| Finanz- und Eurokrise haben, welche Überlegungen hinter einem | |
| linear-progressiven Steuersystem stehen und warum eine | |
| Mehrwertsteuererhöhung insbesondere kinderreiche Familien und sozial | |
| Schwache trifft, braucht es eine Erörterung ökonomischer Sachverhalte in | |
| einem politischen Kontext. | |
| Schülerinnen und Schüler sollten ökonomische Sachverhalte, die – das steht | |
| außer Frage – im Zeitalter der Ökonomisierung wichtiger sind denn je, im | |
| Kontext eines politischen Bildungsauftrags beleuchten. Schließlich sind | |
| volkswirtschaftliche Entscheidungen für gewöhnlich hochgradig politisch | |
| (motiviert). Hinzu kommt, dass sich gesellschaftliches Zusammenleben nicht | |
| dann am besten gestalten lässt, wenn jeder Einzelne um jeden Preis seinen | |
| persönlichen Nutzen zu mehren sucht. Kurzum: Das Phänomen Wirtschaft ist zu | |
| wichtig, um es allein den Ökonomen zu überlassen. | |
| 27 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Engartner | |
| ## TAGS | |
| Wirtschaft | |
| Schule | |
| Nordrhein-Westfalen | |
| Bildung | |
| NRW | |
| Schule | |
| Lobbyismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kritik an Initiative Finanzielle Bildung: Ministeriumsattacke auf Attac | |
| Das Finanzministerium droht der NGO Attac mit juristischen Schritten. Die | |
| Gründe: eine kritische Website und ein geschütztes Design. | |
| Koalition in NRW und Schleswig-Holstein: Besser mit oder ohne Grüne? | |
| In Schleswig-Holstein regiert Jamaika. In NRW verzichtet man auf die | |
| Grünen. Die Ziele der Koalitionen im Vergleich. | |
| Minicomputer in der Schule: Ran an die Platinen | |
| Die Netzszene verspricht sich nicht weniger als eine Revolution im | |
| Klassenzimmer: Mit Calliope sollen Grundschüler programmieren lernen. | |
| Schulfach „Wirtschaft“ in BaWü: Versicherungsnehmen lernen | |
| Ab 2017 lernen SchülerInnen im neuen Fach Wirtschaft. Die Industrie freut | |
| sich. Kritiker fürchten jedoch einen einseitigen Unterricht. |