# taz.de -- Ökonomen über Wirtschaftspolitik: „Rot-Grün hat versagt“ | |
> Michael Hüther vom arbeitgebernahen IW und Gustav Horn vom | |
> gewerkschaftsnahen IMK streiten vor der Wahl über Odysseus, skeptische | |
> E-Auto-Verkäufer und Köln. | |
Bild: Rheinbrücke bei Duisburg Mitte August. Sie ist gegenwärtig wegen Schäd… | |
taz: Herr Hüther, Herr Horn, Sie waren beide im Juli beziehungsweise August | |
im Urlaub. Ist der Wahlkampf wirtschaftspolitisch so langweilig? | |
Michael Hüther: Als Ökonom bin ich kein Wahlkämpfer. Und ich glaube auch | |
nicht, dass noch neue ökonomische Blitzeinsichten im Wahlkampf auf den | |
Tisch kommen. | |
Gustav Horn: Ich bin auch kein Wahlkämpfer. Im Übrigen werden Wahlen erst | |
kurz vor Schluss entschieden. Daher habe ich keine Sorge, dass ich zu wenig | |
präsent bin. | |
Nach einer Umfrage vom Juli können 70 Prozent der Deutschen keine großen | |
Unterschiede zwischen Union und SPD erkennen. Wie sehen Sie das? | |
Horn: In der Tat gibt es weite Bereiche der Übereinstimmung, etwa beim | |
Steuerkonzept. Selbst in der Europapolitik sieht man nur ansatzweise | |
Differenzen. | |
Hüther: Beide Volksparteien können nur in der Mitte gewinnen. Es gibt | |
wirtschaftlich auch keine allzu großen Probleme, verglichen etwa mit den 5 | |
Millionen Arbeitslosen von 2005. Außerdem haben Union und SPD von den | |
letzten zwölf Jahren acht gemeinsam regiert. Sie müssten ja erklären, warum | |
sie das zusammen hinbekommen haben, wenn sie jetzt etwas fundamental anders | |
machen wollen. | |
Horn: Ich fände ich es dennoch gut, wenn es eine härtere Auseinandersetzung | |
gäbe, damit der Wähler auch erkennt, dass er eine Wahl hat. | |
Ein paar ökonomische Blitzeinsichten sind der SPD in diesem Wahlkampf doch | |
gekommen; zuletzt die Forderung nach einer Investitionspflicht des Staates, | |
wenn die Haushaltslage Spielräume ermöglicht. | |
Horn: Ich bin gegen solche Regeln. Das gilt für Schuldenbremsen wie für | |
Investitionspflichten. Ob Schulden gemacht werden oder investiert wird, | |
sind politische Entscheidungen, für die man Verantwortung übernehmen muss | |
und die man nicht an Regeln abtreten kann. Die sind ohnehin viel zu starr | |
für das reale Leben. Die Schuldenbremse führt heute dazu, dass immer mehr | |
Schattenhaushalte entstehen, mit denen man die Schuldenbremse umgehen kann. | |
Genauso würde es einer Investitionspflicht ergehen. | |
Hüther: Regeln sind Ausdruck einer Handlungsschwäche. Wie bei Odysseus, der | |
sich, um dem Ruf der Sirenen nicht zu folgen, an den Mast binden ließ. Eine | |
Investitionspflicht ist aber absurd. Investitionen müssen ja begründet | |
sein. Eine Pflicht wäre von der Idee getragen, dass grundsätzlich zu wenig | |
geschieht. Wenn Sie durch Deutschland fahren, wird überall an der | |
Infrastruktur gewerkelt und getan. Solange wir es uns leisten können, | |
flächendeckend Wildwechselbrücken über die Autobahn zu bauen, dürften wir | |
eigentlich keinen Mangel an Infrastrukturinvestitionen haben. | |
Horn: Herr Hüther, wenn ich mich rund um Köln bewege, habe ich schon den | |
Eindruck, dass wir Investitionsbedarf haben . . . | |
Hüther: Aber nicht, weil die Mittel fehlen, sondern weil in NRW die | |
rot-grüne Landesregierung schlicht und ergreifend versagt hat. Ich wohne | |
Gott sei Dank nicht in Köln, sondern in Wiesbaden. Die Stadt hat genau die | |
gleichen Rheinbrückenprobleme wie Köln, aber deren Sanierung ist | |
rechtzeitig beantragt worden. 2018 ist die Schiersteiner Brücke fertig. Da | |
geht es immer um Prioritäten, wie bei den Wildwechselbrücken. | |
Horn: Das liegt auch daran, dass der öffentliche Dienst wegen der | |
Schuldenbremse viele Stellen abgebaut hat. Das geht meist zulasten der | |
Planungskapazitäten. Wir haben eine lange Phase öffentlicher | |
Unterinvestitionen hinter uns, wo wir auf Verschleiß gelebt haben – und | |
leben immer noch auf Verschleiß. | |
Hüther: In den letzten Jahren sind deutlich mehr Investitionen getätigt | |
worden. Wo sie wirklich ausgeblieben sind, ist beim Breitbandnetz, weil man | |
dort geglaubt hat, die Infrastruktur müsse privat finanziert werden. Es ist | |
aber wie in den 50er Jahren mit dem Telefonanschluss. Was öffentliche | |
Infrastruktur ist, kommt in den Odenwald oder Vogelsberg nicht durch | |
private Investoren. Hier muss die öffentliche Hand Verantwortung | |
übernehmen. Da war ordnungspolitische Verblendung am Werk. | |
Horn: Sicher, die Investitionen sind ausgeweitet worden. Aber die | |
Abschreibungen sind immer noch höher. Wir brauchen daher einen mehrjährigen | |
Investitionsprozess, um unser Land wieder zu modernisieren. Das ist ein | |
Punkt, der in einem Wahlprogramm weit nach vorne gehört. | |
Hüther: Da könnte man sich schnell einigen. Man macht ein | |
Zehn-Jahres-Paket, jeweils zwölf Milliarden mehr pro Jahr. Das kann man | |
relativ gut beziffern. Für die großen Netze: vier Milliarden für Verkehr, | |
vier für Energie, vier für Breitband. Aber dafür braucht man keine höheren | |
Steuern. | |
Horn: Nein, man braucht dazu nur einen entsprechenden Koalitionsvertrag. | |
Hüther: Den können wir ja schon mal machen. | |
Zweite ökonomische Blitzeinsicht der SPD: das Arbeitslosengeld Q. Herr | |
Hüther, Sie lehnen das ab. Warum? | |
Hüther: Die SPD tut so, als gäbe es bisher keine Arbeitsförderung. Das | |
trifft nicht zu: Deutschland zahlt 4 Milliarden Euro für Umschulung und | |
Fortbildung pro Jahr. Mit dem Arbeitslosengeld Q wird man die Probleme | |
nicht reduzieren. Im Gegenteil. Je länger die Bezugsdauer des | |
Arbeitslosengeldes, desto höher der Anreiz, darin zu verbleiben, statt sich | |
zu bewerben. Das belegt die Arbeitsmarktforschung eindeutig. | |
Horn: Na, so eindeutig sind die Befunde nicht. Und In diesen Zeiten | |
rasanten technologischen Wandels fände ich es hilfreich, wenn auch älteren | |
Arbeitnehmern durch das Arbeitslosengeld Q die Chance gegeben würde, sich | |
auf den Arbeitsmarkt neu einzustellen. | |
Hüther: Wir haben gerade bei Älteren eine deutlich steigende | |
Erwerbsbeteiligung. Insofern ist das Risiko, im Alter ohne Job zu bleiben, | |
deutlich reduziert. Weiterbildungsmaßnahmen für alle führen ähnlich wie | |
eine verpflichtende Investitionstätigkeit des Staates nicht zum Ziel. Wenn | |
eine Weiterbildung gut sein soll, muss sie auf den Einzelnen zugeschnitten | |
sein. Konzentrieren wir uns doch auf die Probleme, die wir haben. Das sind | |
die der Langzeitarbeitslosen. | |
Was kann man tun? | |
Hüther: Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass sich der Rückgang bei | |
den Langzeitarbeitslosen deutlich abgebremst hat. Heute sind es noch | |
900.000. Bei ihnen bündeln sich vielfach Risikofaktoren: mangelnde Bildung, | |
ein bruchstückhafter Lebenslauf, häufig auch gesundheitliche Risiken. Es | |
gibt schon eine Vielzahl von Projekten, um die Integration von | |
Langzeitarbeitslosen zu befördern. Diese müssten gründlich evaluiert | |
werden: Was funktioniert, was nicht? | |
Horn: Dass wir noch so viele Langzeitarbeitslose haben, ist bemerkenswert. | |
Genau das Problem sollte Hartz IV angehen. Hartz IV hat die | |
Arbeitslosenhilfe ersetzt, mit der Langzeitarbeitslose im Verhältnis zu | |
ihrem letzten Einkommen unterstützt wurden. Die Bundesregierung hielt das | |
für falsch, weil es zu wenig Anreiz zur Aufnahme von Arbeit böte. Die | |
Analyse stimmte offensichtlich nicht: Die Menschen bemühen sich um Arbeit, | |
aber es gibt die Defizite, die Herr Hüther geschildert hat. | |
Und jetzt? | |
Horn: Viele Langzeitarbeitslose brauchen auch eine Art Employer of Last | |
Resort: Der Staat müsste ihnen nach einer gewissen Zeit eine Arbeit | |
anbieten, mit der sie sich dem Arbeitsprozess wieder nähern können. | |
taz: Dritte ökonomische Blitzeinsicht der Wahlprogramme fast aller | |
Parteien: Alle wollen das E-Auto. Wie viele Arbeitsplätze wird es kosten? | |
Horn: Das kann man so gar nicht sagen. Ihre Frage zielt ja darauf ab, dass | |
man weitaus weniger Zulieferer braucht, weil das Auto weniger Teile | |
benötigt. Natürlich: Unter Status-quo-Bedingungen würden deshalb | |
Arbeitsplätze verlorengehen. Es könnte aber sein, dass diese Autos auch | |
wesentlich billiger würden, als sie es derzeit sind, und dann eine höhere | |
Nachfrage mehr Arbeitsplätze schaffen würde. | |
Hüther: Hat denn einer von uns dreien ein E-Auto? | |
Nein. | |
Horn: Ich nicht. | |
Hüther: Ich auch nicht. Weil das Auto unserer Familie hinreichend alt ist, | |
haben wir überlegt, was wir für ein Neues kaufen. Der Audi A3 E kam infrage | |
. . . | |
. . . ein E-Auto. Aber gekauft haben Sie es nicht? | |
Hüther: Na ja, wissen Sie, hat der Verkäufer herumgedruckst. Ich habe ihn | |
gefragt: Wie viele habt ihr davon im letzten Jahr verkauft? Antwort: Einen. | |
Und das Auto wird am Ende vom Werk zurückgenommen, weil sie nicht einmal | |
wissen, was sie mit der Batterie machen sollen. | |
Sie haben Zweifel an der Technologie? | |
Hüther: Wir haben derzeit 45 Millionen Pkws. Und davon sind vielleicht | |
70.000 Elektroautos. Wir müssten also von 70.000 auf 45 Millionen kommen, | |
vielleicht auch mehr. Mir hat noch niemand erklärt, wie es mit der | |
Infrastruktur gehen soll. Wie lange fahren die Autos? Welche | |
Leistungsfähigkeit haben die Batterien? Die Ladestationen haben | |
Voraussetzungen, die in unserem Stromnetz noch gar nicht erfüllt sind. Es | |
mag ja sein, dass alle irgendwann ein E-Auto haben. Aber zu sagen, das ist | |
die Blaupause des Strukturwandels im Jahr 2035 . . . | |
Horn: . . . das erinnert mich an Aussagen über erneuerbare Energien vor 20 | |
Jahren. Damals konnte sich auch keiner vorstellen, dass sie mal einen | |
solchen Anteil an der Stromerzeugung haben würden. | |
Hüther: Dank übermäßiger Subventionen inklusive deren Fehlanreizwirkung. | |
Für ein Solarpaneel auf dem Dach gab es eine Abnahme- und Preisgarantie. | |
Mehr Subvention geht nicht. Damit war klar, dass die Ausbauziele | |
übertroffen werden. Bei der Elektromobilität haben wir andere | |
Voraussetzungen. | |
Herr Horn, die SPD hat zu Beginn des Jahres einen Gerechtigkeitswahlkampf | |
angekündigt. Inzwischen sehen wir eher einen Steuersenkungswahlkampf. Sie | |
sind einer der wenigen im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich, die eine | |
Vermögensteuer wollen. Der SPD reicht eine Erbschaftsteuer. Warum reicht | |
sie nicht? | |
Horn: Wir haben in der Tat ein Gerechtigkeitsproblem in Deutschland. Wenn | |
die SPD wirklich daran rütteln will, muss sie sich über die | |
Vermögensverteilung Gedanken machen. Dort ist die Ungleichheit besonders | |
groß und verfestigt. Und dazu brauchen wir eine Vermögensteuer. | |
Warum ist sie trotz der großen Haushaltsüberschüsse nötig? | |
Horn: Um die Verteilung anders zu gestalten. Man könnte andere Steuern | |
senken, wenn man eine Vermögensteuer erhebt. Es ist wichtig, dass diese | |
Gesellschaft keine Plutokratie mit geringer sozialer Mobilität wird, | |
sondern eine, in der jeder seine Chancen hat. Das gilt auch für die | |
Unternehmen: Junge Unternehmen müssen nach oben streben können – und alte, | |
große, vermögende Unternehmen nicht zwangsläufig für immer vorne bleiben. | |
Hüther: Es ist keine Staatsaufgabe, den Wettbewerb der Unternehmen über | |
eine Steuer zu befördern. Das passiert in den globalen Märkten hinreichend. | |
Wir haben auch in der Wettbewerbs- und Kartellpolitik genügend Mittel. | |
Und die Gerechtigkeitsfrage? | |
Hüther: Eine Vermögensteuer muss steuerpraktisch umsetzbar sein. Wenn sie | |
eine Vermögenssteuer von einem Prozent erheben und einen Vermögensertrag | |
von vier Prozent, haben Sie einen Einkommensbesteuerungseffekt von 25 | |
Prozent. Der muss aus dem laufenden Kreislauf erwirtschaftet werden. | |
Deswegen läuft eine Vermögensteuer Gefahr, Betriebe zu überfordern. Wichtig | |
ist eine Erbschaftssteuer, weil sie leistungsloses Einkommen in den Blick | |
nimmt. | |
Horn: Selbstverständlich brauchen wir auch eine bessere Erbschaftssteuer. | |
Aber die wird sicherlich nicht ausreichen, um die Vermögensverteilung | |
signifikant zu beeinflussen. Menschen fühlen sich aufgrund der ungerecht | |
verteilten Vermögen abgehängt. Und auch weil die ganz hohen Vermögen | |
vermutlich nicht adäquat statistisch erfasst sind, müssen wir uns Gedanken | |
über eine vernünftige Vermögenssteuer machen. | |
Haben Sie eine wirtschaftspolitische Wunschkoalition für die Zeit nach der | |
Wahl? | |
Horn: Hauptsache, es gibt nicht wieder eine Große Koalition. | |
Alternativlosigkeit schadet der Demokratie, wie man in Österreich sieht. | |
Hüther: Das sehe ich ähnlich. Wir brauchen eine Koalition, die den Mangel | |
an Inspiration und politischen Stillstand beendet. | |
24 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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