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# taz.de -- Seelsorge in Wacken: Wenn der Bass auf die Seele drückt
> Donnernde Musik, schwarze Kutten, eine Bierpipeline – all das gehört zum
> Wacken Open Air. Aber Seelsorge durch einen christlichen Träger?
Bild: Wer vom Teufel spricht, braucht auch mal Seelsorge: Fans in Wacken
Auf dem Wacken Open Air sieht es genauso aus, wie man es sich vorstellt.
Über die Hauptstraße des gleichnamigen Dorfs in Schleswig-Holstein
verteilen sich Buden, die Bier, Bratwurst und Burger verkaufen. Die
Personen davor tragen mehrheitlich Schwarz, 8-Ösen-Doc-Martens, Röcke,
T-Shirts, Nietenarmbänder und Cowboyhüte. Farbig sind meist nur die
Band-Patches auf den Kutten. Sie lachen, grölen, haben rote Köpfe vom Bier
und Augenringe vom Schlafmangel. Ein gutes Stück weiter auf den Feldern
liegt das Festivalgelände. Noch mehr Schwarzgekleidete, noch mehr Bier,
noch mehr Gegröle. Das kommt hier aber von den Bühnen, wird begleitet von
schnellen Gitarrenriffs, tiefen Basslines und donnerndem
Schlagzeuggedresche. Willkommen beim weltweit größten Heavy-Metal-Festival.
Und willkommen hier, wo es die erste Festivalseelsorge gibt, organisiert
von der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland.
Moment: Seelsorge? Auf einem Festival mit dem Motto „Faster, Harder,
Louder“ sollen Menschen innehalten, zur Ruhe kommen, über Gefühle sprechen?
„Das Angebot gibt es nun schon seit 2010“, erzählt Landesjugendpastor
Tilman Lautzas, der die Festivalseelsorge seit 2011 organisiert. Er sitzt
auf einem Klappstuhl vor seinem Zelt, das im Garten des Gemeindehauses
aufgestellt ist. Im Gegensatz zu den meisten hier trägt Lautzas ein weißes
Shirt. Er hängt etwas schief in seinem Stuhl – die letzten Nächte gab es
wenig Schlaf. Es ist Freitag, seit Mittwoch sind er und sein Team da.
„Einer der Wacken-Gründer, Holger Hübner, kam selbst auf die Idee dazu. Die
Seelsorge startete dann mit acht Leuten – und war mit all den Anfragen
maßlos überfordert. Mittlerweile sind wir 19 Ehrenamtliche.“
## Die Frage mit der Fee
19 Personen also, die die Tränen der Metal-Fans trocknen wollen – oder sind
sie insgeheim da, um die Metaller, die allen Klischees nach satanischen
Kräften verfallen sind und Shirts mit Schriftzügen wie „Lieber mit Odin in
Valhalla saufen, als mit Jesus im Himmel weinen“ tragen, zu missionieren?
„Nein, auf keinen Fall“, sagt Lautzas. „Unser Ziel ist es, Ratsuchende zu
stabilisieren. Wir bieten keine Therapie, aber einen Beitrag zur
Krisenbewältigung.“ Eine Methode dazu seien Interventionsstrategien, zum
etwa die Frage: „Wenn eine Fee dir drei Wünsche erfüllen würde – welche
wären das?“
Wer diese Ratsuchenden im Einzelnen sind, darüber schweigen Lautzas und
sein Team. Pressevertreter*innen dürfen sie bei ihrem Gang über das Gelände
oder im Zelt nicht begleiten. „Die Leute kommen her und erzählen uns ihre
intimsten Sorgen. Das können sie nicht, wenn sie befürchten müssen, dass es
am nächsten Tag in der Zeitung steht.“ Doch der Blick auf die anonym
ausgewertete Statistik zeigt: 2016 gab es 198 Beratungen, Beratungsanlässe
waren Ängste, Überforderung, die Zukunft, aber auch Erfahrungen mit
sexualisierter Gewalt oder Suizidgefährdung. Harter Tobak dafür, dass auf
dem Festival die Musik und die neu gebaute Bierpipeline genossen werden
sollen. „Die meisten Personen bringen ihre Probleme schon mit“, sagt
Lautzas. „Durch den Stress auf dem Festival – enorme Lautstärke, viele
Menschen, wenig Schlaf – können die aus den Leuten herausbrechen.“
Vom Lärm der Straße ist im Gemeindehaus nichts zu hören. Hier haben die
Seelsorger*innen während des Festivals ihr Lager aufbaut. Die Gespräche mit
den Ratsuchenden finden nicht hier, sondern in einem Pagodenzelt auf dem
Festivalgelände statt. Eine beruhigende Atmosphäre liegt in dem Raum mit
den hellen Fliesen und auberginefarbenen Backsteinwänden. Rechts in der
Wand eine Durchreiche zur Küche, auf dem Tisch davor eine Tüte voll Äpfel,
Aspirin Complex, drei Kohlrabis, Blasenpflaster, Bananen, Bio-Orangensaft,
Ibuprofen, Schoko Crossies. Dahinter eine Glastür, die zum Garten führt.
Vor ihr stehen mit angetrocknetem Matsch verklebte Gummistiefel, in der
linken hinteren Ecke ein Tisch mit Stühlen, an deren Lehnen hellblaue
Westen mit „Seelsorge“-Schriftzug hängen. Durch eine Tür in der hinteren
Wand lassen sich Matratzen auf dem Boden erkennen. In der Luft liegt jener
Geruch nach Holz, kühlem Stein und Bastelzeug, den es auch in manchen
Schulen gibt.
## Seelsorge im Schichtsystem
Die Tür zum Konferenzraum öffnet sich. Die morgendliche Besprechung, in
denen sie über Fälle und besondere Vorkommnisse sprechen, ist um. Die
Seelsorger*innen kommen raus. Eine von ihnen ist Jarste Morgenthaler. 2011
war sie das erste Mal dabei, mittlerweile gehört sie zum Kernteam. Was sie
motiviert, hier Jahr für Jahr die Nächte durchzuarbeiten, um anderer
Menschen Probleme zu lauschen? „Zum einen war ich 2003 bis 2009 als
Besucherin auf dem Wacken“, sagt sie. „Ich fühle mich hier also heimisch.
Aber vor allem ist es das Helfenkönnen. Ich kann Dinge, die ich in meiner
Ausbildung gelernt habe, direkt anwenden.“ Die 29-Jährige studiert Medizin
und arbeitet in ihrem Beruf als Psychologin. Das machen aber nicht alle.
„Unser Team ist multiprofessionell aufgebaut“, sagt sie. „Wir haben auch
systemische Berater, Sozialpädagogen, Pastoren, Diakone und andere Berufe.
Das ist uns wichtig, damit wir Ratsuchenden verschiedene Angebote machen
können.“
„Hat wer den Duschschlüssel gesehen?“, ruft ein Mann in den Raum. In einer
Viertelstunde müssen acht von ihnen los zur ersten Schicht. Von 13 Uhr bis
5 Uhr morgens sind sie aktiv, jeweils in Vierstundenschichten. So
strukturiert war das nicht von Anfang an, erinnert sich Ulrich Kruse.
Der psychologische Psychotherapeut ist mit 71 Jahren der Älteste im Team
und hat die Festivalseelsorge mit aufgebaut. „Im ersten Jahr haben wir
immer mit dem Telefon unter dem Kopfkissen geschlafen“, erzählt er.
„Erholsam war das nicht – immerhin war man immer auf halb acht. Jetzt gibt
es nach den vier Stunden Einsatz erst mal vier Stunden Pause. Die braucht
man dann auch“, sagt Kruse.
## Matsch!
Nach einem Gang über das Festivalgelände ahnt man, was er meint. Bei jedem
Schritt sinken die Füße in den Schlamm, Zentimeter für Zentimeter. Die
braune Masse quillt an den Seiten des Schuhs empor, verschluckt ihn. Die
Geräusche dabei lassen einen verstehen, wieso die Pampe auch „Matsch“
genannt wird. Denn genau so hört es sich an: Matsch, Matsch, pfff. Es
riecht wie im Wildgatter. Es ist rutschig. Hier vier Stunden
entlangwatscheln und dabei nicht konzentriert auf die Füße starren, sondern
nach Ratsuchenden Ausschau halten – anstrengend.
Es bedarf wohl auch eines geübten Blickes, zwischen all den Feiernden
diejenigen ausfindig zu machen, denen gerade alles zu viel wird, die sich
trotz der 75.000 Menschen einsam fühlen. „Viele kommen gezielt auf uns zu“,
sagt Lautzas. „Wir arbeiten aber auch eng mit den Rettungskräften, der
Feuerwehr und der Polizei zusammen. Wenn die wen finden, funken sie uns an,
und wir kümmern uns dann.“
Das Pagodenzelt, in dem die Gespräche stattfinden, steht deswegen auch
direkt bei Polizei und dem Deutschen Roten Kreuz. Es ist weiß, genau wie
alle anderen Zelte auf dem Gelände. Auf einem schwarzen Schild über dem
Eingang steht „W:O:A Seelsorger Spiritual Guidance“. Von den Bühnen ist
laut die Musik zu hören. Wer hier reden will, muss fast schreien. „Probleme
gänzlich lösen geht hier nicht“, sagt Ulrich Kruse. „Deswegen habe ich die
hier vorbereitet.“ Er hält einen kleinen grünen Zettel in der Hand. Darauf
stehen weitere Anlaufstellen, wie die Nummern der Telefonseelsorge. Für die
Zeit nach dem Festival – denn das ist Sonntag ja schon wieder vorbei.
6 Aug 2017
## AUTOREN
Maike Brülls
## TAGS
Wacken
Seelsorge
Glaube, Religion, Kirchenaustritte
Heavy Metal
Festival
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Heavy Metal
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