# taz.de -- 1. Jahr Putschversuch in der Türkei: Gute Türken, schlechte Türk… | |
> Türkeistämmige Berliner*innen sollen sich und die Türkei andauernd | |
> erklären. Doch das ist nicht leicht, wenn es keine einfachen Antworten | |
> sein sollen. | |
Bild: Viele Deutsch-Türken in Berlin leben zwischen zwei Welten | |
„Und dann habe ich in der Klasse erzählt, dass wir nicht in die Türkei | |
fahren können, weil du so viel über die Türkei schreibst.“ – Wir sitzen … | |
Abendbrottisch, Gürkchen, Käse, Biosauerteigbrot, ziemlich deutsch. Und ich | |
würde just in diesem Moment gern eine Stopptaste drücken und diesen Satz | |
löschen. Den letzten Moment, die letzten Monate, sogar ein paar Jahre. | |
Meine Eltern leben nach langen Jahren in Deutschland wieder in der Türkei. | |
Sie gingen zu einer Zeit zurück, als man noch jubelte, wenn die Türkei | |
einfach nur nett erwähnt wurde. Beim Eurovision Song Contest zum Beispiel | |
oder Fußballnationalspielen, wo die Türken natürlich haushoch verloren, | |
sich aber wacker schlugen. | |
Damals entschloss ich mich, die Sprache und Landeskunde zu studieren, an | |
der FU Berlin. Nie habe ich dort gelebt, weiß also bis heute nicht, wie es | |
sich anfühlt, im Alltag in der Türkei zu bestehen. Fragen wie: Warum wählen | |
so viele Türken diesen Erdoğan?, beantworte ich mit Zahlen und | |
soziologischen Thesen, aber wissen tue ich es nicht. | |
Die Türkei erklären ist nicht so einfach wie es aussieht, auch wenn das | |
gefühlt jeder zweite Taxifahrer im deutschen Fernsehen erstaunlich gut | |
kann. Vorzugsweise in gebrochenem Deutsch („Er macht Türken stolz! Lasse | |
wir nix mehr sage von Avrupa!“) Wer einfache Antworten will, bekommt diese | |
Wahrheiten ebenso wie ich am Abendbrottisch serviert. | |
## Schlechte Türken gegen gute Türken | |
In Sondersendungen, Themenabenden und politischen Talkrunden versucht die | |
deutsche Mehrheitsgesellschaft, „die Türken“ erklärt zu bekommen und so | |
eine Ahnung zu kriegen, wie „die Türken“, also die hiesigen | |
Türkeistämmigen, so ticken. Und machen daraus Erdoğan-Wähler und | |
Erdoğan-Gegner. Schlechte Türken gegen gute Türken. | |
Rote riesige Fahnen lassen sich eben besser abbilden als das, wofür die | |
Erdoğan-Gegner stehen. | |
Vielleicht interessiert die große Mehrheit der hiesigen Türkeistämmigen | |
mehr die Aufklärung der NSU-Morde als ein Wahlkreuz auf einem türkischen | |
Wahlzettel? Wäre doch auch möglich, dass die Bundestagswahlen der absolute | |
Gesprächsstoff unter türkeistämmigen Taxifahrern sind. Nur, es fragt sie ja | |
keiner. | |
Vielleicht ist die Einteilung in die guten und schlechten Türken nur eine | |
weitere Stufe der Differenzierung. Vom „Ausländer“ zum „Mitbürger“, w… | |
zum „Migrationshintergrund“ und nun: politisches Subjekt. Politische | |
Teilhabe und Wahlrecht für die türkeistämmige Bevölkerung. Falsches Land, | |
aber immerhin. | |
## Sie bringen Würde mit | |
Während die Mehrheitsgesellschaft nun mit Argusaugen die hiesigen | |
Türkeistämmigen unter die Lupe nimmt („Du, die Frau Öztürk, die war doch | |
immer so nett, jetzt hängt sie auch schon eine rote Fahne raus“), flüchten | |
Akademiker*innen, Journalist*innen und Künstler*innen aus der Türkei. | |
Endlich füllt sich nun auch das Bild der Erdoğan-Gegner. Die guten Türken | |
kommen! Und bringen den Kampf um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und | |
menschliche Würde mit. | |
Deutschland kann sich auf die Schulter klopfen und sich als das Land | |
zeigen, dass es gern sein möchte: weltoffen, solidarisch, extrem nett. So | |
wie zur WM 2006, Motto: „Zu Gast bei Freunden“. | |
Die ersten Gäste aus der Türkei, die kamen, mussten noch arbeiten. Helmut | |
Kohl, Allah habe ihn selig, wollte die Hälfte der Türken in den 1980er | |
Jahren aus dem Land wissen. Wir blieben und brachten Deutschland als | |
Gastgeschenk Mesut Özil und Mustafa’s Gemüsekebap mit und überlebten dafür | |
im Gegenzug Mölln, Solingen, Sarrazin und den NSU. | |
Heute geben Kohls Nachfolger halb gare politische Statements ab, indem sie | |
Visaerleichterungen für gute Türken fordern, also Erdoğan-Gegner. Wie das | |
geprüft werden soll – geschenkt. Es würde ja schon reichen, dass | |
Asylanträge nicht monatelang verschleppt würden und die Erleichterungen | |
beim Asylverfahren nicht nur für den Braindrain und hochrangige Militärs | |
gälten. | |
## Eine Angst bleibt | |
Eine Gemeinsamkeit zwischen der Generation meiner Eltern und der nun aus | |
der Türkei kommenden Intelligenzia ist: Integration ist kein Thema. Während | |
meiner Generation dieses Wort wie Hundekacke am Schuh klebt, kannten die | |
ersten Einwanderer keine Integrationsdebatten. Solange man fleißig am | |
Fließband den Akkord schaffte und die Klappe hielt, waren sie integriert – | |
in die Arbeitsabläufe. | |
Auch die Newcomer kommen ganz ohne Integrationsdebatten aus. Und sind damit | |
integrierter, als wir es jemals waren, so als Deutschtürk*innen. Sie werden | |
nicht nach Defiziten, sondern nach ihrem Nutzen beurteilt, brain ist sexy. | |
Was uns allen gemein ist: die Angst, nicht mehr in die Türkei fahren zu | |
können. Egal ob die nun berechtigt ist oder nicht. | |
Teil eines Schwerpunktes anlässlich des 1. Jahrestages des gescheiterten | |
Putsches in der Türkei. Erschienen in der Printausgabe von taz.Berlin am | |
Wochenende 15./16. Juli 2017. | |
15 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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