# taz.de -- Pride-Woche in Mersin: „Rührt unsere Würde nicht an“ | |
> Hetzkampagnen und Angriffe dominieren die erste Pride-Woche nach dem | |
> Referendum in der „Neuen Türkei“. Eindrücke aus der Küstenstadt Mersin. | |
Bild: Trubel auf dem Festland? Kein Problem. Ab auf die Pride-Fähre und weiter… | |
Als am Sonntagabend zum Höhepunkt der Pride-Woche in Mersin der Walk | |
stattfinden soll, taucht eine Gruppe von Nationalisten und Islamisten auf, | |
die die Teilnehmer*innen körperlich attackieren. Die Hetzkampagne und | |
Drohungen im Vorfeld sollten die Polizei auf potenzielle Ausschreitungen | |
vorbereitet haben. | |
Doch von einer sicheren Atmosphäre kann, trotz einiger Verhaftungen, nicht | |
die Rede sein. Und so verabschieden sich die Pride-Teilnehmer*innen mit | |
einer eigens angemieteten Fähre und lauten Slogans vom Festland, bis die | |
dortige Situation sich beruhigt. Was natürlich etwas gedauert hat. | |
## LGBTI-Vereinsgründung nach Gezi | |
Zum dritten Mal fand in diesem Jahr die Pride-Woche in der südosttürkischen | |
Hafenstadt, die für ihren weitflächigen Citrusfruchtanbau bekannt ist, | |
statt. Organisiert wird sie von dem 2013 nach den Gezi-Protesten hier | |
gegründeten LGBTI-Verein 7 Renk (zu deutsch: 7 Farben). Man mag meinen, | |
dass Mersin als eine der wenigen Städte in dieser Region bereit sein könnte | |
für eine Pride. | |
Schließlich stimmte die Stadt beim Referendum im April mit „Nein“. 64 | |
Prozent der Wähler*innen hatten sich gegen das Präsidialsystem entschieden. | |
Interessant ist auch, dass bei den Parlamentswahlen 2015 keine der großen | |
Parteien auf mehr als 25 Prozent kam. Anders als im Rest des Landes, wo | |
stets klar ist, wer welche Stadt dominiert. | |
## Hetzkampagne durch regierungsnahe Medien | |
Ein Artikel, der in der regionalen Tageszeitung Milat unter dem Titel | |
„Unehrenhafte Parade in Mersin“ erschien, appellierte schon im Vorfeld der | |
Pride an die Reaktionären der Stadt, sich gegen die LGBTI-Präsenz „zu | |
wehren“. So gab die regierungsnahe Zeitung, die eine tägliche Auflage von | |
50.000 Exemplaren hat, den Anstoß für eine Hetzkampagne, die in die | |
sozialen Netzwerke weiter getragen wurde. | |
Befeuert wurde die Hetzkampagne unter anderem von der regierungsnahen | |
Beamten-Gewerkschaft Memur-Sen, der Humanitären Hilfsorganisation IHH und | |
der religiösen Stiftung Ensar Vakfı, die zuletzt mit | |
Kindesmissbrauchsskandalen von sich reden machte. Diese Organisationen | |
übten wiederum Druck auf die Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen aus, sich | |
ebenfalls von der Pride-Woche zu distanzieren. Allerdings blieb Eğitim-Sen | |
dabei, den LGBTI-Aktivist*innen Raum und Unterstützung zu bieten. Allein | |
das Hotel, das Gäste der Pride beherbergen sowie Räume für Veranstaltungen | |
stellen sollte, stornierte sämtliche Reservierungen. | |
## Präsenz zeigen | |
Nach einem Eröffnungsempfang der Pride-Woche, bei dem ein paar | |
Aktivist*innen für die Sicherheit am Eingang sorgten, fanden die gesamte | |
Woche über Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen statt. Die Themen | |
reichten in diesem Jahr von Beamten, die per Notstandsdekret aus dem Dienst | |
entlassen wurden, über Rechtsfragen von Sexworker*innen, bis hin zu | |
Alltagsproblemen von Geflüchteten, Menschen mit Behinderung und anderen | |
Minderheiten. | |
Elif Tuna Şahin gehört zu den Gründer*innen des 7 Renk Vereins. Die | |
55-Jährige ist Elektroingenieurin, jedoch kann sie ihren Beruf nicht | |
ausüben, weil sie als Transfrau keine Arbeit bekommt. Şahin war bereits in | |
den nach dem Putsch von 1980 gegründeten ersten Transvereinen in Istanbul | |
tätig. | |
Mit der Gründung von 7 Renk habe sie sich erhofft, dass auch in Mersin | |
LGBTI-Personen zu einander finden und sich solidarisieren können, wie in | |
Istanbul oder Ankara: „Am Anfang hat man uns keine Räume vermietet. Und | |
heute ist es immer noch schwer. Doch hätten wir die Pride dieses Jahr | |
abgesagt, wäre sie nächstes Jahr unmöglich geworden. Wir müssen Präsenz | |
zeigen, nicht nur für LGBTI, sondern für die Würde aller Menschen.“ | |
## Sicherheitsbedenken verhindern Aktionen | |
Weil es bei der Pride-Woche eben auch um die Sichtbarkeit von | |
LGBTI-Personen geht, waren dieses Jahr auch „Straßen-Performances“ in | |
Mersin geplant. So sollten verschiedene Aktivist*innen in Casual-Kleidung | |
in eines der meistbesuchten Einkaufszentren der Stadt gehen, um sich in den | |
Kabinen der Boutiquen zu kostümieren, und sich im Anschluss mit den neuen, | |
deutlich auffälligeren Klamotten unter die Menge zu mischen. Aufgrund der | |
zahlreichen Drohungen wurde diese Aktion der Pride abgesagt. | |
Auch der Pride Walk stand bis zuletzt wegen Sicherheitsbedenken seitens der | |
Aktivist*innen sowie der Polizei auf der Kippe. Am Ende entschloss man sich | |
doch, ihn zu machen, allerdings wurden Veranstaltungsort und -zeit bis | |
Samstagabend geheim gehalten. Am Sonntag dann, zwei Stunden vor dem | |
Fastenbrechen, trafen sich die Teilnehmer*innen in einem Park im | |
Stadtzentrum. „Rührt unsere Würde nicht an“ lautete der Slogan der | |
diesjährigen Pride, der vom großen Banner in der ersten Reihe des Marsches | |
prangte. | |
## „Es reicht, geht endlich!“ | |
Doch das mit dem Nicht-Anrühren scheiterte, denn beim ersten Pride Walk in | |
der „Neuen Türkei“ (Begriff der das Land nach dem Verfassungsreferendum | |
beschreibt, Anm. d. Red.) kam es direkt zu verbalen und physischen | |
Angriffen. | |
„Wir fürchten uns nicht, wir schweigen nicht, wir beugen uns nicht“ | |
skandieren die Pride-Gegner, die noch auf dem Festland zu hören sind, als | |
der Pride Walk auf der Fähre weitergeht. „So was macht man nicht während | |
des Ramadan“, beschwert sich eine Person aus der Angreifergruppe bei der | |
Polizei. „Diese Menschen sind verdammt. Warum machen Sie nichts?“ Der | |
Polizeibeamte erwidert nur nüchtern: „Was soll ich denn machen? Die | |
umbringen? Ihr habt doch protestiert. Es reicht, geht endlich!“ | |
## Ramadan als Hetzvorwand | |
Eine Weile stehen die Reaktionären noch im Park herum und empören sich. | |
Doch als sich der Sonnenuntergang nähert, verabschieden sie sich zum | |
Fastenbrechen und die Pride-Fähre nähert sich wieder der Anlegestelle. | |
Die junge Anwältin Ezgi Özkan ist ebenfalls Mitglied von 7 Renk: „Die | |
letzten zwei Jahre hatten wir weniger Probleme. Vielleicht hatte das damit | |
zu tun, dass die Pride-Woche vor Ramadan stattfand.“ Und doch weiß Özkan, | |
dass die Auseinandersetzungen vor allem mit der im Vorfeld gefahrenen | |
Hetzkampagne und dem noch andauernden Ausnahmezustand zu tun haben. | |
„Diese Angriffshaltung hat sehr viel mit unserer Zeit zu tun. Sie basiert | |
auf einem Boden, der Hass nährt, und der von der Regierung bereitet wurde. | |
Wir bekommen persönliche Morddrohungen und Fotos von Kalaschnikows. In der | |
Theorie kann man natürlich rechtlich dagegen vorgehen, in der Praxis jedoch | |
nicht.“ | |
12 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Abidin Yağmur | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
1. Jahr Putschversuch in der Türkei: Gute Türken, schlechte Türken | |
Türkeistämmige Berliner*innen sollen sich und die Türkei andauernd | |
erklären. Doch das ist nicht leicht, wenn es keine einfachen Antworten sein | |
sollen. | |
Gesetz zum Schutz von LGBTI: Kanada lässt die Gender fließen | |
Das kanadische Parlament billigt den Schutz von Transgender – und wird | |
damit zum Vorreiter für LGBTI-Rechte. |