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# taz.de -- Erdoğan beim G20-Gipfel: Warten auf den Feind
> Cansu Özdemir stand auf der Todesliste türkischer Spione. Beim G20-Gipfel
> will sie gegen Recep Tayyip Erdoğan demonstrieren.
Bild: Cansu Özdemir spricht im Hamburger Rathaus
Kurd*innen sind es gewöhnt, ihre Toten an der Wand zu sehen. Im kurdischen
Kulturverein im Bahnhofsviertel St. Georg, mitten zwischen salafistischen
Moscheen und türkischen Kulturvereinen, sitzt Cansu Özdemir, an einem Tisch
und rührt in ihrem Tee. An den Wänden hängen über 50 Portraits von
gefallenen Kämpfer*innen. Viele von ihnen wurden nicht älter als zwanzig.
Özdemir ist Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in der Hamburger
Bürgerschaft. Und sie ist deutsche Kurdin. Vor einigen Monaten war die
28-jährige Abgeordnete in die Schlagzeilen geraten, weil sie zur
[1][Enttarnung des türkischen Spions Mehmet Fatih S.] beigetragen hatte. S.
war vom türkischen Geheimdienst beauftragt worden, den kurdischen
Funktionär Yüksel Koç zu ermorden. Und auch Özdemirs Name selbst stand auf
seiner Todesliste.
Häufig werde sie gefragt, ob sie jetzt Angst habe, erzählt Özdemir. „Nein�…
antwortet sie dann. Denn auch an so etwas seien Kurd*innen gewöhnt. „Du
wächst in dem Bewusstsein auf: Dass du eine andere Meinung vertrittst, kann
dich dein Leben kosten.“
Zu den G-20-Protesten erwartet die Community bis zu 15.000 Kurd*innen in
Hamburg. Am kommenden Samstag wird der kurdische Block direkt an zweiter
Stelle laufen, hinter dem internationalen Block, noch vor den Autonomen.
Die ersten Reihen des kurdischen Blocks werden Frauen stellen. Als Referenz
auf Rojava, wo es in erster Linie Frauen sind, die versuchen, eine
alternative Gesellschaft aufzubauen.
## Mobilisierung an der Haustür
Für die Mobilisierung sind die kurdischen Frauen von Haus zu Haus gegangen,
haben Texte in kurdischen Zeitungen veröffentlicht, im kurdischen Fernsehen
zum Protest gegen Erdoğan aufgerufen. Das zieht: Noch nie sei es
vorgekommen, dass sich die kurdische Community in so großer Masse an einer
Großdemo beteiligt, sagt Özdemir. Diese Chance lasse man sich natürlich
nicht entgehen.
Rezan Aksoy trägt ein purpurrotes Leinenhemd und einen dunkelbraunen
Vollbart. Er ist 30 Jahre alt. Wenn er spricht, ballt er immer wieder die
Faust. Er sitzt im Südblock am Kottbusser Tor in Berlin, ein Treffpunkt für
[2][die „neue Welle“ von Migrant*innen aus der Türkei in Berlin], viele von
ihnen im Exil. „Entschuldige, ich werde emotional“, sagt er.
Aksoy ist auch Kurde, aber erst seit November 2016 in Berlin. Er kam auf
Einladung der Alice Salomon Hochschule, um über das Verhältnis von Kunst
und Flucht zu sprechen. Und er blieb, unfreiwillig. Sein Vortrag wurde in
den sozialen Medien verbreitet. Die türkische Polizei durchsuchte daraufhin
seine Wohnung in Izmir und leitete Ermittlungen gegen ihn ein. Wohl auch,
weil er eine Erklärung der „Theatermacher für den Frieden“ unterschrieb.
Als Aksoy begriff, dass er verhaftet werden würde, beantragte er in
Deutschland Asyl – und bekam es.
## „Vieles ist auf der Strecke geblieben“
„Früher habe ich mich für Geflüchtete engagiert, jetzt bin selbst einer“,
sagt der Theatermacher. In Izmir, wo er Bühnenkunst studierte, arbeitete er
für die Organisation „Halkların Köprüsü“, der Brücke der Völker: „…
die Psyche eines Geflüchteten“, sagt er. Schon 1993 musste er mit seiner
Familie fliehen. Sie wurden aus ihrem Dorf im kurdischen Mardin vertrieben
und fanden Zuflucht in der westtürkischen Metropole Izmir. „Vieles ist auf
halber Strecke geblieben“: Seine Arbeit am Karşı Sanat Theater in Izmir.
Seine Masterarbeit, die er nicht einreichen konnte. Ein Theaterstück über
den Krieg in Syrien, das er bald aufführen wollte.
Seine künstlerische Arbeit sei in Berlin zwar noch nicht ganz in Gang
gekommen. Dafür laufe die Arbeit mit dem HDK, dem kurdischen Dachverband
Demokratischer Kongress der Völker, gut. Aksu erzählt von der Nein-Kampagne
vor dem Verfassungsreferendum, die er in Berlin mitorganisierte. Die
Kampagne habe ihn psychisch aufgebaut, „trotz der Niederlage“ Nächste
Station: Der G-20-Gipfel in Hamburg – „Weil Erdoğan dafür verantwortlich
ist, dass ich ein Flüchtling bin.“ Und weil einige wenige Mächtige die Welt
nach ihren Interessen formen wollten. Aksoy wird wieder lauter, als er das
bei Gipfeln übliche Gruppenfoto der Staatschefs anspricht: „Sie lächeln auf
diesen Fotos, gleichzeitig sterben Tausende im Nahen Osten.“ Aksoy begrüßt
alle „demokratischen“ Formen des Protests, auch Blockaden.
Der G-20-Gipfel ist ein wichtiges Ereignis für die türkeistämmige,
kurdische Linke, aber auch alle anderen, die mit der autoritären
Transformation der Türkei nicht einverstanden sind. Aksoy fragt: „Wieso
sieht Deutschland über die rhetorischen Ausfälle Erdoğans hinweg?“ Der
türkische Präsident hatte die deutsche Politik nach Auftrittsverboten von
AKP-Politiker*innen der Nazimethoden bezichtigt.
Viele sehen im europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommen den Grund für das
Schweigen. Für Aksoy ist das ein Teil der Wahrheit, nicht mehr. Die Politik
gegenüber den Kurd*innen sei an Zynismus nicht zu überbieten, sagt er.
Viele kurdische Symbole, darunter jene der kurdischen Partei PYD in Syrien
und ihrer Streitkräfte YPG und YPJ, sind in Deutschland seit Kurzem
verboten. „Schämen die sich nicht vor den mutigen Frauen, die in Syrien
gegen den IS kämpfen?“, fragt er. Die Kurd*innen, die der Westen in Stich
lasse, glaubt Aksoy, seien die Ersatzgabe für den Prediger Fetullah Gülen,
den Erdoğan hinter dem Putschversuch wähnt, und den man nicht an die Türkei
ausliefern wolle. Aber Aksoy ist auch hoffnungsvoll, „weil die Türkei ein
Land ist, in dem der Kampf um Demokratie eine lange Tradition hat“.
6 Jul 2017
## LINKS
[1] /Agent-des-tuerkischen-Geheimdienstes/!5382128
[2] /Tuerkische-Diaspora-in-Deutschland/!5416355
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
Volkan Ağar
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