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# taz.de -- Großdemonstration in der Türkei: „Das hat mir wieder Mut gegebe…
> Immer mehr Menschen schließen sich dem „Marsch für Gerechtigkeit“ an, d…
> Sonntag in Istanbul enden soll. Teilnehmer schöpfen wieder Hoffnung.
Bild: Der „Marsch für Gerechtigkeit“ ist der größte Protest seit langem
Istanbul taz | „Für unsere Kinder, wir marschieren hier für unsere Kinder,
damit die in Zukunft wieder in einem freien und gerechten Land leben
können“. Die Frau ist etwas außer Atem, strahlt dennoch vor Begeisterung.
Sie arbeitet im öffentlichen Dienst und will deshalb aus Angst vor
Entlassung ihren Namen nicht nennen. „Aber“, sagt sie, „der Marsch hat mir
wieder Mut gegeben. Tausende, Hunderttausende, ja Millionen Menschen in der
Türkei denken wie ich.“
Sie hat sich Urlaub genommen und marschiert nun schon seit drei Tagen mit
im [1][„Marsch für Gerechtigkeit“], jeden Tag rund 20 Kilometer unter
praller Sonne und auf glühend heißem Asphalt. Die Stimmung ist trotzdem
bestens. „Wir werden von Tag zu Tag mehr, jeder in der Türkei hört uns.“
Auch am Straßenrand fiebern die Leute zunehmend mit. Am Mittwochmittag wird
der Marsch in Hereke erwartet, einem kleinen Ort an der vierspurigen
Schnellstraße nach Istanbul, direkt am Marmarameer. „Bald kommen sie“,
rufen die Leute sich zu, als die ersten Versorgungsbusse Hereke passieren.
Vor lauter Polizei ist von den Demonstranten zunächst allerdings nichts zu
sehen.
Am Morgen hatte die Polizei sechs angebliche IS-Attentäter festgenommen,
die einen Anschlag auf den Marsch vorbereitet haben sollen. Als die Vorhut
der rund 30.000 Marschierer nun in Sicht kommt, fahren zunächst Panzerwagen
und Räumfahrzeuge der Polizei vorneweg. Dann ist die Polizeieskorte um die
Teilnehmer so eng, dass man sich kaum dazugesellen kann.
## Man könne der Justiz nicht mehr vertrauen
Kemal Kılıçdaroğlu, der Initiator des Marschs und neuer Held der Türkei,
wird an diesem Tag unmittelbar von mehreren Journalisten begleitet, die
angeklagt, aber noch nicht in Haft sind. Unter ihnen ist Erdem Gül,
Hauptstadtkorrespondent von Cumhuriyet, der gemeinsam mit Can Dündar wegen
angebliches Geheimdienstverrats belangt werden soll. Den letzten Anstoß für
den Marsch hatte ja die Verhaftung des CHP-Parlamentariers und Journalisten
Enis Berberoğlu gegeben, der Cumhuriyet angeblich das Material für ihre
Enthüllungsgeschichte über illegale Waffentransporte nach Syrien geliefert
haben soll und deshalb zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.
Viele Teilnehmer tragen weiße Kappen und weiße T-Shirts, jeweils mit dem
Aufdruck „Adalet“, Gerechtigkeit. Der Zug ist so lang, dass man ihn von
keiner Stelle aus überblicken kann. Im hinteren Teil sind weniger
Polizisten, man kann sich etwas freier bewegen. Drei junge Studenten sind
erst an diesem Morgen dazugestoßen und wollen jetzt bis Sonntag nach
Istanbul mitmarschieren. „Viel zu spät“ habe sich Kılıçdaroğlu aufgera…
sagt einer, der Internationale Beziehungen studiert. „Die CHP hätte viel
früher auf die Straße gehen müssen“. Diese Kritik am Chef der größten
Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, ist in der
Türkei weit verbreitet. Kılıçdaroğlu, der „Gandhi“ der Türkei, galt b…
als zu schwach und zu milde, um dem aggressiven Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan etwas entgegensetzen zu können.
Doch seit der 68-Jährige marschiert, wächst die Zustimmung für den
Oppositionsführer. Geschickt hat Kılıçdaroğlu auf jede Parteifolklore
verzichtet. Er lädt jeden und jede ein, mit ihm gemeinsam „Gerechtigkeit“
zu fordern. Angesichts der massenhaften Verhaftungen und Entlassungen (rund
50.000 verhaftet, 150.000 gefeuert), seitdem am 20. Juli letzten Jahres der
Ausnahmezustand eingeführt wurde, bezeichnen rund 75 Prozent der Türken
fehlende Gerechtigkeit als Problem. Auch etliche AKP-Anhänger sagen
mittlerweile, dass man der Justiz nicht mehr trauen kann.
## „Wir müssen unsere Stimme wieder hörbar machen“
Kılıçdaroğlu hat es deshalb geschafft, weit über die Anhängerschaft der C…
hinaus Menschen für seinen Gerechtigkeitsmarsch zu mobilisieren. Viele
schöpfen wieder Hoffnung, seit sie sehen, dass sie mit ihren Problemen
nicht alleine sind. Eine ältere Türkin, die in Nordamerika lebt, ist extra
für den Marsch in ihre alte Heimat gekommen. „Wir müssen unsere Stimme
wieder hörbar machen“, sagt sie. „Wir sind mit der Regierung nicht
einverstanden, die Welt soll das sehen. Schreiben Sie darüber.“ Viele
Türken befürchten, dass die Welt den Kampf um die Demokratie in ihrer
Heimat verloren gibt, nachdem Erdoğan das Referendum über die Einführung
des Präsidialsystems im April knapp für sich entschied. Die Opposition
hatte ihm Wahlmanipulation vorgeworfen.
„Aber wir werden weiterhin für unsere Demokratie streiten, sowohl im
Parlamentals auch auf der Straße“, bekräftigt auf dem Marsch Utku Çakırö…
Abgeordneter der CHP und vorher auch Journalist. „Die Regierung kann den
Marsch nicht mehr ignorieren und ist sehr nervös. Sie befürchtet, ihre
Heldenfeierlichkeiten zum Jahrestag des Putschversuchs am 15. Juli werden
durch unseren Marsch in den Schatten gestellt“, sagt er. Am Sonntag in
Istanbul werden wir über eine Million Demonstranten sein“.
Wie geht es dann weiter? Kemal Kılıçdaroğlu hat es erstmals seit Jahren
geschafft, die Menschen gegen die Willkür der Regierung zu mobilisieren.
„Es ist ein neues Bewusstsein entstanden“, glaubt Utku Çakıröze, „das …
unseren Kampf für Demokratie enorm unterstützen – sowohl im Parlament als
auch bei weiteren Aktionen auf der Straße. Erdoğan wird das zu spüren
bekommen“.
6 Jul 2017
## LINKS
[1] /Kommentar-Opposition-in-der-Tuerkei/!5427719
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Türkei
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