| # taz.de -- Urteil zum Tarifeinheitsgesetz: Kompliziert und mit Streitpotential | |
| > Das Verfassungsgericht schützt mit seinem Urteil wichtige Rechte kleiner | |
| > Gewerkschaften. Womöglich gehen jetzt aber erst recht die Konflikte los. | |
| Bild: Besonders wichtig für die kleinen Gewerkschaften: Das Streikrecht bleibt… | |
| Karlsruhe taz | [1][Das Bundesverfassungsgericht hat das | |
| Tarifeinheitsgesetz der Großen Koalition weitgehend akzeptiert] – nachdem | |
| es zentrale Interessen kleiner Gewerkschaften in das Gesetz | |
| hineininterpretierte. Vor allem deren Streikrecht bleibt für sie voll | |
| bestehen. | |
| Tarifeinheit bedeutet, dass pro Betrieb nur ein Tarifvertrag gilt. Das | |
| Prinzip soll verhindern, dass ständig eine andere Gewerkschaft für „ihren“ | |
| Tarifvertrag streikt und die Unternehmen nicht zur Ruhe kommen. | |
| Eigentlich ist die Tarifeinheit nichts Neues. In Deutschland galt diese | |
| seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 1957. Die | |
| Tarifeinheit war aber immer umstritten, weil sie in die grundgesetzlich | |
| geschützten Rechte von Gewerkschaften eingreift. 2010 erklärte das BAG | |
| deshalb, dass nur der Gesetzgeber die Tarifeinheit einführen könne. DGB und | |
| Arbeitgeber machten Druck auf den Bundestag und forderten ein | |
| entsprechendes Gesetz. | |
| Die Große Koalition erfüllte fünf Jahre später diesen Wunsch und beschloss | |
| das Tarifeinheitsgesetz. Im Konfliktfall soll nur der Tarifvertrag der | |
| Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Der | |
| Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft würde „verdrängt“, also unter den | |
| Tisch fallen. Als Ausgleich hat die kleinere Gewerkschaft das Recht, den | |
| Mehrheitstarifvertrag für ihre Mitglieder „nachzuzeichnen“, also zu | |
| übernehmen. Das Gesetz, so Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), sei ein | |
| „Anreiz zur Kooperation“ der Gewerkschaften. | |
| ## Spartengewerkschaften sahen Existenz bedroht | |
| Die kleinen Gewerkschaften sahen ihre Existenz bedroht. Wie sollen sie noch | |
| Mitglieder werben, wenn ihre ausgehandelten Tarifverträge am Ende nicht | |
| gelten? Würden nicht Arbeitsgerichte jeden ihrer Streiks verbieten, weil es | |
| unverhältnismäßig wäre, für einen wirkungslosen Tarifvertrag zu streiken? | |
| Deshalb klagten die Spartengewerkschaften in Karlsruhe: die | |
| Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Lokführergewerkschaft GdL, die | |
| Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO) und die Pilotenvereinigung | |
| Cockpit. Als einzige DGB-Gewerkschaft hatte auch Verdi | |
| Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie muss in manchen Kliniken die Konkurrenz | |
| des Marburger Bunds fürchten. | |
| Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Klage für ein Grundsatzurteil. Das | |
| Recht, Gewerkschaften zu gründen und Tarifverträge zu schließen – die | |
| Koalitionsfreiheit –, sei ein „Freiheitsrecht“, so die Richter. Es sei | |
| deshalb kein legitimes Ziel für den Gesetzgeber, bestimmte Typen von | |
| Gewerkschaften klein zu halten. Der Bundestag dürfe aber die | |
| Rahmenbedingungen regeln, damit die Tarifautonomie funktioniert und faire, | |
| angemessene Tarifverträge ermöglicht. Dazu darf der Gesetzgeber verhindern, | |
| dass „Schlüsselpositionen“ in Betrieben ausgenutzt werden, um für die | |
| eigene Gruppe Ergebnisse zulasten der übrigen Beschäftigten zu erzielen. | |
| Die „Verdrängung“ von Tarifverträgen sei jedoch ein schwerer Eingriff in | |
| die Tarifautonomie, so die Richter. Er sei nur zu rechtfertigen, wenn das | |
| Gesetz einschränkend ausgelegt wird. So sollen die Arbeitsgerichte stets | |
| prüfen, ob nicht doch beide Tarifverträge nebeneinander anwendbar sein | |
| können. Jedenfalls dürften „längerfristig bedeutsame“ Errungenschaften | |
| eines Minderheitstarifvertrags nicht verdrängt werden. Wenn etwa eine | |
| Arbeitsplatzgarantie oder eine Betriebsrente vereinbart wurde, dann müsse | |
| dies erhalten bleiben. Dies müssen entweder die Arbeitsgerichte oder der | |
| Gesetzgeber sicherstellen. | |
| Punktuell verfassungswidrig sei das Tarifeinheitsgesetz, weil es nicht | |
| sicherstellt, dass die Interessen kleiner Berufsgruppen, deren Tarifvertrag | |
| verdrängt wird, am Ende überhaupt berücksichtigt werden. Hier muss der | |
| Bundestag bis Ende 2018 nachbessern. Das Tarifeinheitsgesetz bleibt bis | |
| dahin in Kraft – unter der Bedingung, dass Mehrheitsgewerkschaften nun | |
| „ernsthaft und wirksam“ die Interessen der Minderheitsgewerkschaften | |
| berücksichtigen. | |
| ## Streikrecht bleibt | |
| Besonders wichtig für die kleinen Gewerkschaften ist aber, dass das | |
| Bundesverfassungsgericht ihr Streikrecht garantiert hat. Auch wenn sie | |
| eindeutig weniger Mitglieder haben, dürfen sie für einen eigenen | |
| Tarifvertrag streiken, denn nur eine Gewerkschaft, die einen eigenen | |
| (verdrängten) Tarifvertrag hat, darf anschließend den Tarifvertrag der | |
| Mehrheitsgewerkschaft übernehmen. | |
| Die beiden Richter Susanne Baer und Andreas Pauslus kritisierten das Urteil | |
| scharf und gaben ein Sondervotum ab. Es sei schon fraglich, ob es überhaupt | |
| ein Problem mit kleinen Gewerkschaften gebe. Jedenfalls machten diese nur | |
| von ihren Grundrechten Gebrauch und hätten auch gute Gründe gehabt, sich | |
| von den DGB-Gewerkschaften abzuspalten. Das Verdrängen ihrer Tarifverträge | |
| sei unverhältnismäßig, das Tarifeinheitsgesetz deshalb verfassungswidrig. | |
| Passenderweise wurden Baer und Paulus einst von den kleinen Parteien (Grüne | |
| und FDP) als Verfassungsrichter vorgeschlagen, während die sechs Richter um | |
| den Senatsvorsitzenden Ferdinand Kirchhof, die einst von den großen | |
| Parteien (Union und SPD) nominiert wurden, das Gesetz durch richterliche | |
| Nachbesserungen retteten. | |
| Wie geht es nun weiter? Möglicherweise beginnen jetzt erst die Konflikte, | |
| die das Gesetz eigentlich vermeiden will. Auch kleinere Gewerkschaften | |
| könnten nun versucht sein, durch populäre Forderungen, aggressive Streiks | |
| und die Vertretung zusätzlicher Berufsgruppen selbst zur Mehrheit im | |
| Betrieb zu werden. | |
| Um solche Konflikte zu vermeiden, könnten die Tarifparteien aber auch die | |
| Verdrängung von Tarifverträgen per Vertrag ausschließen. So ist es bei der | |
| Bahn zumindest bis 2020 geregelt. Dass dies zulässig ist, hat Karlsruhe | |
| jetzt ausdrücklich festgestellt. | |
| Der Bundestag könnte nach der Wahl aber auch zum Schluss kommen, dass das | |
| Tarifeinheitsgesetz wenig bringt und nur Ärger macht – und es einfach | |
| wieder abschaffen. (Az.: 1 BvR 1571/15) | |
| 11 Jul 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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