# taz.de -- Die Band „Die Höchste Eisenbahn“: Dann kommt der Regen | |
> Francesco, Moritz, Felix und Max, das sind die Jungs von der Band „Die | |
> Höchste Eisenbahn“. Sie könnten ganz groß rauskommen. Aber wollen sie | |
> das? | |
Bild: Drummer Max Schröder, links, und Sänger Francesco Wilking spielen vor d… | |
„Malle hat seine Unterhose vergessen“, so fängt es an. Malle ist aus der | |
Crew, ihr Soundmixer, aber Sänger Francesco will auch direkt los, sich ein | |
Deo kaufen, hat er vergessen – es ist heiß auf dem Gelände, er schwitzt. | |
„Gibt’s irgendwo einen Rossmann?“ | |
Lange sind sie noch nicht hier, in Sachsen: „Die Höchste Eisenbahn“, die | |
Band, die Jungs – Francesco, Moritz, Felix und Max. Mitsamt ihren Leuten, | |
mit Malle, mit dem Tourmanager, mit dem Lichtmixer, dem Fahrer. Vier | |
Stunden saßen sie im Bus. Berlin–Dresden. Da dann noch durch die Altstadt, | |
den Hügel hoch zur Technischen Universität, wo sie am Abend spielen sollen, | |
beim „Unirocks“-Festival. Als dritte von fünf Bands. | |
„Hängt das WLAN gerade oder wie?“ Der Tourmanager hat das Smartphone in der | |
Hand, er sucht nach Drogerien und einem H&M – wegen der Unterhose. Neben | |
ihm sitzt der Fahrer, auf einer Bierbank im Cateringzelt, wo Gemüse und | |
Obst auf Tabletts liegen, für die mit dem Backstage-Pass. Francesco und | |
Moritz scrollen auch auf ihren Handys: „Ihr könnt jetzt live dabei sein, | |
wenn wir unseren neuen Social-Media-Kanal pflegen“, sagt Francesco, und | |
Moritz lacht. „Seit heute sind wir bei Instagram.“ Vier Fotos haben sie | |
bereits hochgeladen. „Müssen wir noch mehr?“ Vier Fotos, 248 Abonnenten. Es | |
ist ein Anfang. | |
Auf Facebook haben sie knapp 16.000 Fans, ihr zweites Album ist vergangenes | |
Jahr erschienen. Mit deutschen Liedern, der Sorte Musik, die Kritiker | |
lieben. Die selten im Radio läuft, weit davon entfernt ist, als „das Beste | |
von heute“ im Hintergrund zu dudeln. | |
„Die Höchste Eisenbahn“, 2011 gegründet, von dem Sänger mit den blonden … | |
dem mit den braunen Haaren: Francesco Wilking und Moritz Krämer. Felix | |
Weigt ist Bassist, Max Schröder der Drummer. Eine Band, die abheben könnte. | |
Vier Jungs, die als Nachfolger von „Tocotronic“ gehandelt werden. Künstler, | |
die brillante Reime schreiben, in Lieder verpackte Lyrik. Musiker, auf | |
deren Durchbruch gewartet wird: Schaffen die den Sprung? | |
Wollen sie überhaupt? | |
Lastwagenanhänger werden zwischen Hörsaalzentrum und Bühne gerollt, über | |
zertretenes Gras, auf das die Mittagssonne prallt. Ein Mann schiebt einen | |
Kühlschrank von Red Bull, oberkörperfrei, auf seinen Tattoos glitzert | |
Schweiß. Francesco ist vom Tourmanager auf die Bühne gezogen worden, als | |
seine Selbstgedrehte noch brannte und er über Helene Fischer sprach. | |
„Helene hat ihre Berechtigung, die ist eine hart arbeitende Frau.“ Jetzt | |
sind sie bereit für den Soundcheck: Francesco mit rotem Käppi, Max in | |
Jogginghose, Moritz in Birkenstock. Felix mit der Zahnbürste, die er eben | |
noch im Mund hatte und nun in einer pinken Schutzhülle aufbewahrt – in der | |
Gesäßtasche seiner Jeans. | |
„Hallo? Hi?“ Kabel einstöpseln. Saiten anschlagen. | |
„Geht das bisschen lauter?“ | |
„Jajajajaja.“ | |
Dann die ersten Töne von Lisbeth, von Isi, „spiel nochmal genau an der | |
Stelle!“ – von Raus aufs Land. Die Ballade, für die sich Moritz ans | |
Keyboard setzt, die er größtenteils alleine singt, etwas kratzig und | |
vernuschelt. Die wie eine Kurzgeschichte ist: Ein Paar zieht aus der Stadt, | |
weil die Zweizimmerwohnung nicht mehr reicht. Herrlich, diese Landluft, die | |
Vorstellung einer eigenen Terrasse, endlich das eigene Haus zu bauen. Und | |
dann wird Zement in die Gruben gegossen, werden die Gerüste verhasst, | |
wackelig wie Pappe, weil die Freundin Sex mit dem neuen Nachbarn hat. | |
Meintest du das mit raus aufs Land? | |
„Bisschen lauter noch?“ | |
Ihre Texte sind oft so, „Eisenbahn“-Erzählungen – über das Du und das I… | |
diese und jene Tage. Wechselnde Launen. Da ist etwa Aliens, in dem sie | |
Menschen beobachten, die ihre Leben organisiert kriegen und in Zügen ihre | |
reservierten Plätze suchen. Oder Gute Leute, das Stück über eine Party, die | |
man sich besser gespart hätte; ich heiße so und so und ich gehör zu dem und | |
dem. | |
„Okay, reicht!“ | |
Der deutsche Pop, der derzeit weit oben in den Charts landet, ist eher | |
verrätselt und schmerzhaft: Philipp Poisel, mit seinem neuen Album auf | |
Platz 1 eingestiegen, weint manchmal bei Auftritten. Er scheint seine | |
Kreativität aus der Trauer zu ziehen, aus episch-tragischen Beziehungen, | |
einem großen „Geh nicht“. Bei Clueso – fünf Mal Gold, drei Mal Platin �… | |
das ähnlich. Viele seiner Songs heißen wie Bücher, die man an Tankstellen | |
kaufen könnte: „Erklär mir“, „Du bleibst“, „Nur bei dir“. „Die … | |
Eisenbahn“ ist anders. Manchmal enttäuscht, ziemlich oft gut drauf. Schade, | |
wenn es mit der Liebe nicht klappt, zum Glück gibt es noch andere Dinge. | |
„Guck mal, es passiert was!“ Francesco, mit seiner runden Brille über einen | |
Teller Spaghetti gebeugt, entdeckt eine Wespe in der Pasta, hievt sie auf | |
die Gabel und schiebt sie an den Rand. Dann fährt er mit dem Tourmanager, | |
mit Malle und dem Shuttle-Service des Festivals zum Bahnhof – zu Rossmann | |
und H&M. Moritz mixt sich einen Smoothie, Ingwer-Karotte, „bisschen viel | |
Ingwer“. | |
Kurz darauf liegt er in einem Bett des großen, grauen Tourbusses. Ein | |
„Nightliner“, in dem es kühl ist. Vorne sind Sitze und Tische, in der Mitte | |
kommen die Betten – links und rechts, meist zwei übereinander. Zu viele für | |
die Band und ihre Crew, fast ein Schlafsaal. | |
„Ich schlaf gar nicht“, Moritz schiebt den Vorhang vor seiner Matratze weg | |
und zwängt sich durch den schmalen, schwach beleuchteten Gang. Max ist auch | |
da, zusammen hocken sie sich in den Raum ganz hinten im Bus. Wo die | |
Klimaanlage rauscht und ein Flachbildschirm am Fenster hängt. Ecksofa, | |
Aschenbecher. Eine Playstation. Normalerweise spielen sie „Fifa“ im Bus, | |
sagt Moritz. „Manchmal bis 6 Uhr morgens. Diesmal hat leider keiner an | |
,Fifa' gedacht.“ | |
Bücher hat er mitgebracht, Kurzgeschichten von Salinger und Bukowski. | |
Salinger und Bukowski: die huldigen dem gepflegten Absturz und der | |
Rebellion, das ist Suff, Punk, Allein-gegen-die-Erwachsenenwelt-Kämpfen. | |
Rock-’n’-Roll-Literatur. Man sucht was, findet es nicht, ahnt aber die | |
Richtung. So ähnlich wie sie? Sollten sie durchstarten, dann tun sie das | |
nicht von null auf hundert, sondern langsam aus der Mitte. Für viele Touren | |
ist der „Nightliner“ noch zu groß, da nehmen sie den Sprinter. | |
Moritz: 37, der sich durchs kinnlange Haar fährt. Sich für „nicht | |
streitfähig“ hält, „auch nicht in der Band“. Aufgewachsen im Schwarzwal… | |
Mit seiner ersten Band probte er „unten im Feuerwehrhäuschen“. | |
Francesco: der nebenher noch bei „Tele“ singt, in Freiburg Italienisch und | |
Literatur studiert hat. „Aber das war egal, ein Alibi.“ | |
Am Schlagzeug: Max. Anfang vierzig, höflich, ruhig, mit rosa T-Shirt und | |
Turnbeutel. Der bei „Tomte“ gespielt hat und mit Olli Schulz. Die Schule | |
abgebrochen hat, um auf Tour zu gehen. | |
Am Bass: Felix. In Gruppen geht er auf. Improvisiert und reißt Witze. | |
„Es gab mal den Moment, wo wir uns als Band gefragt haben: Ist das jetzt | |
eigentlich ’ne Band? Oder ist das ’ne offene Beziehung?“ Alle haben sie | |
noch andere Lieben: Moritz studiert Film, Francesco schreibt vielleicht ein | |
Buch. Nebenher spielen sie mit anderen. Und, sagt Moritz – er mäandert so, | |
erzählt halt so: Wenn man heirate, und sei es nur für die Steuer, „dann ist | |
das wahrscheinlich schon ein anderes Gefühl. Oder?“ | |
Wie viel Commitment braucht Erfolg? | |
Max sagt, er sei froh, dass die Kluft zwischen ihrem Alltag und der Tour | |
nicht so groß sei, als dass ihn ihre Roadtrips aus der Bahn werfen könnten. | |
Wenn sie wie zuletzt vier Wochen am Stück weg seien, kämen seine beiden | |
Töchter ihn besuchen. „Wir sind keine Rockstars.“ Aber, sagt er: „Die To… | |
ist schon das Beste.“ Allein das Gefühl, irgendwo anzukommen – von einem | |
ins nächste Universum geschleust zu werden, Aschaffenburg im Colos-Saal, | |
Kassel im Kulturzelt, Wien, beim „Donaukanaltreiben“, Graz, Winterthur – | |
und alles ist für dich geregelt. Du kriegst deinen Pass umgehängt, hast oft | |
nicht mal Geld einstecken, kriegst Essen, kriegst dein bisschen Rückzug von | |
der Welt, „und tust das, was du magst“. | |
Moritz sagt, „vor einem Ding wie heute“ sei Nervosität überflüssig. „W… | |
spielen fünfzig Minuten. Da ist man fast fertig, bevor man angefangen hat.“ | |
Nervös sei er bei Clubkonzerten. Oder vor Leuten, die er kennt – wie bei | |
der Diplomfeier, bei der er aufgetreten ist. Seiner eigenen. Sein | |
Diplomfilm ist zwar noch nicht fertig, aber das Drehbuch steht: „Jemand | |
zweifelt, ob das Quatsch ist, was er all die Jahre gemacht hat. Ein Typ | |
Anfang fünfzig, der Musik gemacht hat. Es läuft nicht mehr. Und der wurde | |
nie Udo Lindenberg oder Grönemeyer.“ | |
Kann sein Protagonist denn davon leben? | |
„Nee, irgendwie auch nicht.“ | |
Und sie? | |
„Also, über das Rentending darf man gar nicht nachdenken. Die muss woanders | |
herkommen, die Kohle.“ | |
Es ist, als fehle ihrem Haus noch das Dach. In Leipzig spielen sie | |
demnächst für 23, in Jena für 12 Euro. Bei dem Campusfestival in Dresden | |
spielen sie nicht am Anfang und nicht am Ende, sondern zwischendrin. | |
Irgendwie üben die noch. Und sie machen es sich nicht leicht mit ihren | |
langen, oft schnell gesungenen Texten – und Refrains, in denen sie auf „die | |
große Geste“ verzichten, wie Moritz sagt. Auf das Laute, Pathetische, | |
Andreas-Bourani-Artige. | |
Als er 2010 Francesco trifft, sind sie beide Singer-Songwriter. Der eine | |
macht mal beim anderen mit, dann macht mal Judith Holofernes bei den beiden | |
mit. Sie nennen sich „Die Höchste Eisenbahn“, weil Francesco das Bild so | |
gefällt – einer Eisenbahn, die auf Stelzen fährt. Schließlich holen sie | |
sich „noch den Felix und den Max dazu“ und liefern ihr Debütalbum 2013. | |
„Schau in den Lauf, Hase“, heißt es. | |
Die Feuilletons ringen um Vergleiche. „Fleetwood Mac“? „Landstreicher-Pop… | |
„Westcoast-Pop der Siebziger“! Wo sind die einzuordnen, verdammt? Werden | |
die berühmt? „Warm wie ein Kuchen, der vor zehn Minuten aus dem Backofen | |
kam“, wird die Platte in der Süddeutschen Zeitung rezensiert. Und die | |
darauf folgende, 2016 auf Spiegel Online: „Klare Worte, dem Chaos | |
abgerungen. Strahlende Melodien, aufblitzend aus dem Zwielicht des | |
Alltags.“ | |
Wie machen sie das? | |
Moritz schaut aus dem Fenster des Tourbusses, Richtung Himmel. Grau. | |
Wolken. „Vielleicht sollten wir was Spannendes machen?“ – „Was denn?“… | |
„Weiß nicht. Gibt’s hier ’nen See?“ – „Nee.“ – „Und morgen?�… | |
Francescos Locken kleben, aber das Deo hat er. „Gibt’s irgendwo ein | |
Duschzimmer?“ Ihr Tourmanager steht kurz im Türrahmen und wirft ihm eine | |
Tube Zahncreme hin. Odol Med 3, eben am Bahnhof gekauft. | |
Moritz: „Mainstream wird ja von Leuten gehört, die sich nicht für Musik | |
interessieren. Das ist zumindest meine Theorie.“ | |
Francesco: „Und was heißt das, sich nicht für Musik interessieren? ,Du | |
weißt ja gar nicht, was ein verminderter Septakkord ist, deswegen hast du | |
keine Ahnung?’“ | |
Dass sie selten proben, sagt er, er näselt – „unsere Musik ist ja einfach�… | |
Dass Moritz oft zu Hause arbeite und er lieber im Studio; Texte so | |
entstehen, dass jemand „was anschleppt“, eine Zeile, eine Strophe, und dann | |
„guckt man“. Einmal haben sie sich eine Woche in Moritz’ Wohnung | |
eingeschlossen und ihre „Laptops so miteinander verbunden“, dass der eine | |
sehen konnte, was der andere schrieb. „Eigentlich funktioniert das wie | |
Tagebuch.“ Sätze festhalten, „das macht man dauernd“. | |
Die „Eisenbahn“ ist ihr Werk. „Wir versuchen, dieses krass Manipulative | |
auszuklammern, was Popmusik kann“, sagt Francesco. Dass ein ganzer Song | |
durch Schlüsselwörter, wie zum Beispiel Stern – so heißt eines ihrer | |
Lieder, Moritz nennt es „den Schlager“ –, falsch verstanden werden könnt… | |
Ein „Stern“ im Satz leuchte heller als sämtliche Worte davor und danach. | |
Dabei ist das Lied die pure Tristesse, man kann es als eines über einen | |
besorgten Bürger verstehen: Kette ist ein Mann, der traurig ist. Aber nach | |
außen ist er furchtbar laut. Er hat sein Leben lang das Pech gesammelt, | |
gibt es mit beiden Händen wieder aus. | |
„Denkt an Bruce Springsteens ,Born in the USA‘. Das ist ein Song, der | |
Amerika kritisiert, den Vietnamkrieg.“ Und was bleibt von ihm übrig? „Born | |
in the USA.“ | |
Dann zieht Pommesgeruch über das Festivalgelände, auf dem die Stimmen | |
lauter werden. Der Wind krümmt die Absperrgitter zum Backstage-Bereich, | |
weht Blätter in das Planschbecken, vor dem sie alle sitzen – auf Liegen | |
von Bacardi und Aperol. Es sind Unwetter gemeldet. „Jemand ein Bier?“ | |
Der Tourmanager bringt ihnen ein „Fifa 2015“-Spiel, „Leute, was geht ab?�… | |
Hat er auf Ebay-Kleinanzeigen gefunden, schnell „bei so ’nem Privattypen“ | |
geholt, „der auch Drogen verticken könnte: Der hat gesagt, er geht nicht | |
raus.“ Alter! Woaaah! Alter! Wie krass! | |
Max sagt, „jetzt kriegste wieder einen Bärchenstempel ins Heft“, und | |
schlägt den Gedichtband auf, den er eben zugeklappt hat. | |
Ist das: „Westcoast-Pop der Siebziger“? | |
Werden die berühmt? | |
Moritz: „Wenn du einen Plan B hast, bremst du dich aus. Das ist, wie wenn | |
du gerade zu hundert Prozent einen Urlaub buchen willst und plötzlich eine | |
Reiserücktrittsversicherung abschließen sollst.“ | |
Francesco: „Ich stelle mir das so vor: Idealerweise macht man seinen Kram, | |
und das ist so wie kleine Pflastersteinchen oder Erde oder so was. Und das | |
häuft man an, und irgendwann ist der Berg so groß, dass man oben stehen | |
kann.“ | |
Die erste Band tritt auf, die „Giant Rooks“: fünf Um-die-zwanzig-Jährige, | |
die das Festival eröffnen, Gitarrenriffs, Drums. Studenten lösen sich von | |
den Bierständen und rücken an die Bühne vor, „Prost!“, Gelächter; das | |
Kribbeln vor der langen Nacht. Moritz und Francesco: mittendrin, Radeberger | |
in den Händen, sie wippen und nicken mit. „Krasse Stimme.“ – „Die üben | |
viel!“ – „Und später kommen dann wir, mit unserer Entspannungsmusik.“ | |
Zwei Mädchen gucken zu ihnen rüber, tuscheln, drehen sich weg. Kommen mit | |
einem Edding. „Unterschreibt ihr auf unseren T-Shirts?“ | |
Der Bass lässt die Plastikwände der Dixi-Klos zittern. Blitze zucken, Regen | |
prallt so hart auf die Kabel am Boden, dass sie in Schlamm sickern und im | |
Zelt der „Eisenbahn“ das Licht flackert. Francesco zieht seine eisblaue | |
Jacke über und Moritz seine Lederjacke und Felix zieht seine Zahnbürste | |
nicht aus der Jeanstasche. Dann warten sie und rauchen, laufen kurz die | |
Bühnentreppe hoch, hinten an den Rand, während die zweite Band noch spielt: | |
„Faber“, ein Musiker aus Zürich. Die Treppe wieder runter, warten, rauchen. | |
Fünf oder sechs Minuten noch. „Faber“ auf die Schulter klopfen, dem jemand | |
Bier und Kippe reicht; „Faber“, der Reime auf Schweizerisch grölt, mit | |
seiner Combo hoch- und runterspringt, er reißt sich das T-Shirt weg. | |
„IVANKA“ ist auf seine linke Schulter tätowiert. | |
Moritz: „Vielleicht denkt man ja nie: Das ist total cool, was ich da | |
gemacht habe – das stelle ich mir ins Regal.“ | |
Francesco: „Du kannst dir deine Musik ins Regal stellen. Die beiden Alben | |
und deine Soloplatte.“ | |
Moritz: „Meine Soloplatte ganz sicher nicht. Vielleicht nehmen wir die | |
nochmal neu auf?“ | |
Dann sind sie dran. | |
„Die Hö-chste Ei-senbaaaaahn!“ | |
Lisbeth, Gierig, Isi. Vielleicht achtzig Leute stehen vor der Bühne, der | |
Rest stellt sich an den Bierständen unter. Vorne, am Geländer, schwenkt ein | |
Junge seinen durchweichten Jutebeutel, neben ihm tanzt ein Mädchen im | |
Matsch – barfuß, langsam, es geht nicht recht voran. Das Publikum ist nass, | |
und Francesco, am Keyboard, sitzt zu weit vom Publikum entfernt, „merkt ihr | |
das auch?“ Sie müssen umbauen, das Keyboard vorrücken. Später reicht | |
Francesco Wasser in die erste Reihe, „Bierflasche werfen trau ich mich | |
nicht.“ Sie sagen „sorry“ wegen der umgekehrten Verhältnisse: „Wer zah… | |
steht im Regen, wer Geld kriegt, im Trockenen.“ | |
Der Regen hört nicht auf, das Konzert bald. Moritz sagt, er habe bei | |
Lisbeth die falsche Gitarre genommen. Beim Singen sei er Francesco nicht | |
ganz hinterhergekommen. „Man macht einen Riesenaufriss! Und dann?“ | |
Wie überstehen Bands überhaupt Krisen, ausbleibenden Ruhm? | |
Auf einem Kiesweg wachen sie auf, am nächsten Morgen in Aachen. Vor der | |
„Zinkhütte“, einem Hof, in dem auch Hochzeiten und Firmenfeiern | |
ausgerichtet werden. Hohe Räume, hell gestrichenes Holzgebälk. Bäume, die | |
sich zwischen Backsteinwänden wiegen. | |
„Die Eisenbahn“ ist ein Ensemble der Ruhekenner – und wie sie im großen | |
Stil rumhängt, so etwas wie Kunst. Soundcheck, 15 Uhr. „Was ist denn das | |
für ein Strom hier?“ | |
Francesco steigt mit glühender Zigarette über einen Zaun, weil es keinen | |
Hintereingang zur „Zinkhütte“ gibt. Felix springt mit einer geöffneten Co… | |
aus dem Fenster und schüttet sich Cola ins Gesicht. Gegen 18 Uhr zerknüllt | |
Max ein Handtuch und umwickelt es so fest mit schwarzem Tape, dass sie | |
damit kicken können. Moritz sagt, „auf Festivals verdienen wir mehr, auf | |
weit entfernten Konzerten manchmal gar nichts“. 1.000 Euro zahlen sie der | |
Crew, 1.000 Euro für den Bus: Berlin–Dresden–Aachen–Berlin. „Wisst ihr… | |
der Eintritt heute kostet? Drei Euro fünfzig.“ Für Hartz-IV-Empfänger ist | |
er umsonst. | |
Vielleicht reicht das. | |
Moritz: „Erfolg ist was Komisches.“ | |
Francesco: „Er definiert sich halt nicht über die anderen.“ | |
Moritz: „Das Schönste ist sowieso, wenn die Leute, die du selbst cool | |
findest, cool finden, was du machst.“ | |
Um 20.45 Uhr steht „Die Höchste Eisenbahn“ im Nebel. In flackerndem und in | |
rotem Licht, Schweiß an den Schläfen. Sie singen Aliens und Isi, mit diesen | |
Stimmen, die wie auf ihren Platten klingen, brüchig und warm, leise, | |
kräftig. Landstreicher-Pop, Kuchen, der aus dem Backofen kommt. In der | |
ersten Reihe hüpft ein Kind, auf der Empore kann eine Frau jeden Text. | |
Lisbeth, Gierig. Meintest du das mit raus aufs Land? | |
„Wir freuen uns, dass ihr alle gekommen seid“, sagen sie. „Eigentlich kein | |
Wunder bei dem Preis.“ Dann bedanken sie sich: Bei der Crew, bei Malle. Bei | |
jedem Bandmitglied. „Danke, Moritz.“ „Danke, Francesco.“ Danke, Felix. | |
Danke, Max. | |
14 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
## TAGS | |
Festival | |
Musikindustrie | |
Musiker | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Rock | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Peter Tauber | |
Tocotronic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Comeback der Rockband Royal Trux: Die Neunziger haben nie aufgehört | |
Das beste, das kaputteste Rockduo der Welt ist auferstanden: Royal Trux. | |
Mit einem neuen Album und einem Deutschlandkonzert. | |
Punkband Tics: Nächste Misere in zwei Minuten | |
Unruhige Zeiten brauchen eruptive Musik: In ihrem Debütalbum kippt die | |
Kölner Band Tics eine Lawine von Lärm über Schlagworte und Phrasen. | |
Die Band des CDU-Generalsekretärs: Früher war Peter ein Punk | |
Bevor CDUler Peter Tauber in die Politik ging, spielte er in der Punkband | |
„Persuasive“ – und sang von Weltfrieden und Zahnärzten. | |
Neues von Tocotronic und Lowtzow: Hunde und Lieblingslieder | |
Tocotronic stellt mit „Coming Home“ eine Compilation ihrer Lieblingssongs | |
zusammen. Sänger Dirk von Lowtzow covert die Pet Shop Boys. |