Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Literarisches Erinnern: Mit Selbstironie gegen Völkermord
> Bis heute ist der Armenier-Genozid ungesühnt. Darüber liest die
> Turkologin Corry Guttstadt bei den Hamburger „Tagen des Exils“.
Bild: Erinnern kann öffentlich geschehen, so wie hier im April 2015, oder in d…
HAMBURG taz | „Konvertitenbrut“ haben sie der Mutter auf der Straße
nachgerufen. „Pass bloß auf, ich komm gleich und dreh dir deinen Hintern
ins Gesicht“, schrie sie zurück. Die kleine Tochter stand dabei und
verstand es nicht. Wie auch; es waren doch alle Muslime im kleinen Dorf,
wer sollte da schon anders sein?
Es war ein winziger Riss im großen Schweigen, erst die armenische Autorin
Karin Karakașlı aus der Enkelgeneration hat das Themas gründlich
ausgeleuchtet: die Zwangsmuslimisierung jener, die den Armenier-Genozid von
1915/1916 überlebten und in der Türkei nur getarnt weiterleben konnten. Die
sich als Türken oder Kurden ausgaben, deren Geschichte aber nie aus dem
Kollektivgedächtnis verschwand.
In manchen Orten gilt die Hälfte der Bewohner als „gefaked“, sagt die
Hamburger Turkologin, Autorin und Herausgeberin Corry Guttstadt. Sie wird
bei den Hamburger „Tagen des Exils“ über die Rolle des armenischen
Völkermords in der Literatur sprechen und auch Augenzeugenberichte
zitieren.
Die hat Guttstadt für ihre 2015 erschienene Anthologie „Wege ohne Heimkehr“
zusammengestellt. Sonst forscht sie über vor der Shoah in die Türkei
geflohene Juden oder über unterdrückte Kurden. Dieses Mal hat sie
Geschichten übersetzt, darüber, was Kurden Armeniern antaten. Denn viele
halfen während der von der jungtürkischen Republik angeordneten
Deportationen, bei Todesmärschen, Vergewaltigungen, beim Ertränken,
Versklavung.
## Staatlicher Schutz gegen Kopfsteuer
Gesät wurden die anti-armenischen Ressentiments lange vorher: Schon um 1800
waren die christlichen Armenier – wie die gleichfalls christlichen Griechen
und die Juden – den Muslimen im Osmanischen Reich nicht gleichgestellt und
wurden diskriminiert. Doch solange sie eine Kopfsteuer zahlten, schützte
sie der Staat.
Das änderte sich, als der osmanische Vielvölkerstaat im 19. Jahrhundert zu
zerfallen begann und sich die Christen auf dem Balkan gegen die
Unterdrückung erhoben. Im folgenden Krieg verlor das Osmanische Reich
Mazedonien und damit fast alle verbliebenen europäischen Gebiete. Zudem
verordneten die europäischen Großmächte den Osmanen Reformen – auch den
Schutz der Minderheiten.
Doch die wurden verschleppt, sodass die Armenier England und Frankreich um
Hilfe baten. Parallel gründeten sie Parteien sowie Kampfgruppen, die
osmanische Beamte angriffen und teils massakrierten. Konflikte zwischen
Armeniern und Kurden in ländlichen Gegenden kamen hinzu. 1894 bis 1896 gab
es Pogrome gegen die Armenier mit 80.000 bis 300.000 Toten. Die osmanischen
Behörden griffen nicht ein.
Ab 1909 kamen die sogenannten Jungtürken an die Macht, die zunächst
reformfreudig, bald zunehmend nationalistisch-pantürkisch eingestellt
waren. Unter ihnen schwelte die anti-armenische Stimmung weiter. Wenn man
außerdem bedenkt, dass etliche Armenier – auf eine Vereinigung mit der
armenischen Minderheit in Russland hoffend – mit der dortigen Armee
kämpften, wird klar, warum die Jungtürken die Armenier als Verräter und
Sündenböcke betrachteten. Eine „Dolchstoß-Legende“ entstand.
Das hatte Folgen: Am 27. 5. 1915 erließ die türkische Regierung ein
Deportationsgesetz und brachte die geistige armenische Elite in Viehwaggons
von Konstantinopel (heute Istanbul) nach Aleppo. Danach zwang man die
übrige armenische Bevölkerung auf Todesmärschen durch die syrische und
mesopotamische Wüste. Wer ihnen half, wurde mit dem Tod bedroht; einige
osmanische Offiziere traten zurück, als sie begriffen, dass es nicht um
Umsiedlung, sondern um Vernichtung ging.
## Presse berichtete weltweit
Das wurde klar benannt: „Es handle sich, wie mir Talaat Bej sagte, darum,
die Armenier zu vernichten“, berichtete im Juni 1915 der deutsche
Generalkonsul Johann Heinrich Mordtman aus Konstantinopel. Auch aus der
Presse erfuhr die Weltöffentlichkeit von dem Genozid: Medien von New York
über London bis Paris schrieben darüber, vereinzelt auch deutsche
Journalisten.
Politisch passiert ist – außer einer verurteilenden Adresse Großbritanniens
und Frankreichs – nichts. Deutschland selbst, mit dem Osmanischen Reich
verbündet, wollte den Krieg gewinnen, nahm den Völkermord billigend in Kauf
und erließ eine Pressezensur.
Als wollte sie das gutmachen, hat Corry Guttstadt in ihrem Buch
Augenzeugenberichte von Armeniern aufgenommen, die in Nahost, in arabischen
Ländern, in den USA und Frankreich überlebten. Pailadzo Captanian etwa
berichtet, dass die Türken damit prahlten, dass sie die deportierten Männer
„bis auf den letzten erwürgt haben“. Dass die Frauen „von den Gendarmen
völlig entkleidet und gezwungen wurden, nackt weiterzulaufen. So gingen sie
tagelang unter der gleißenden mesopotamischen Sonne. Ihr Zug wurde vom Hohn
und Gelächter der Einheimischen begleitet.“ Später sei das Lager zum
Sklavenmarkt umfunktioniert worden, wo man die Frauen „verhökerte wie
Vieh“, schreibt sie.
Solche Sklavenmärkte entstanden an jeder Zwischenstation der
Deportationszüge. „Dann kamen jeweils kurdische oder auch
türkisch-muslimische Bauern aus der Umgebung, um sich Frauen und Kinder zu
holen, die dann zwangsmuslimisiert wurden“, sagt Guttstadt. Die übrigen
trieb man endlos weiter. „Eure Reise wird dort zu Ende sein, wo ihr
krepiert“, hat ein türkischer Eseltreiber zu Paildzo Captanian gesagt.
Doch selbst wer zunächst überlebte, war nicht sicher. Die Autorin Zabel
Yesayan etwa, die der Deportation entkam, ging 1932 in die Sowjetrepublik
Armenien, um an der Universität Jerewan Literatur zu lehren. Aus
ungeklärten Gründen muss sie dann mit der stalinistischen Diktatur
kollidiert sein. 1937 wurde sie verhaftet und starb wohl 1942 in einem
Gefängnis in Baku.
Und was geschah mit denjenigen, die den Genozid verantworteten, den die
Türkei bis heute leugnet und „kriegsnotwendig“ nennt? 1919 gab es auf Druck
Frankreichs und Großbritanniens die „Unionistenprozesse“ unter anderem
gegen die Ex-Minister Talat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha.
Ausgerechnet diesen „Architekten“ des Genozids hatte Deutschland Asyl
gewährt, sodass sie in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden. 1921/1922
wurden sie im Zuge der „Operation Nemesis“ von einem Sonderkommando der
armenischen Daschnaken-Partei aufgespürt und ermordet.
## Türken beschlagnahmen armenische Gebäude
Die Rückerstattung persönlichen Besitzes sowie armenischer Kirchen-, Schul-
oder Bibliotheksgebäude gab es indessen nie. Bizarre Ironie: „Die
Nationalbewegung von Atatürk hat sich in einer beschlagnahmten armenischen
Schule gegründet“, sagt Guttstadt. „Auch das erste türkische Parlament war
ein armenische Gebäude.“ Während sich einige kurdische Organisationen und
Politiker für die Beteiligung ihrer Bevölkerungsgruppe an den Massakern
entschuldigt haben, tat die türkische Regierung das nie.
Bleibt zu fragen, ob die armenische Literatur vor allem im Opfergestus
lebt. „Nein“, sagt Guttstadt. Alleinstellungsmerkmal armenischer Literatur
sei vielmehr die hohe Satiriker-Dichte. Der Genozid-Überlebende Yervant
Odian etwa habe – ähnlich wie sein Vorläufer Hagop Baronian – armenische
„Super-Revolutionäre“ und Möchtegern-Gelehrte karikiert. Gurgen Mahari ein
ironisches Porträt der Stadt Van verfasst, die 1896 schwere Massaker an
Armeniern erlebte.
„Diese Selbstironie“, sagt Gustadt, „erinnert mich stark an die der
jüdische Literatur. Als unterprivilegierte Minderheiten haben sie ja auch
viel gemeinsam.“
Vortrag & Lesung: 22. Juni, 19.30 Uhr, Literaturzentrum Hamburg
19 Jun 2017
## TAGS
Türkei
Völkermord Armenien
Literatur
Genozid
Armenien
taz.gazete
taz.de
Armenien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Reise nach Armenien: Ararat-Brandy und Religion
Religion und Sprache sind bis heute die beiden Eckpfeiler der armenischen
Identität. Sie sind auch das Bindeglied zu den Exilarmeniern.
Jahrestag des Armenier-Genozids: Vereint in der Leugnung
Ankara leugnet den Völkermord noch immer. Und auch in Deutschland
übernehmen viele türkische Verbände diese Haltung, ohne auf Gegenwind zu
stoßen.
Referendum: Entscheidungen aus zweiter Hand
Das Referendum polarisiert türkeistämmige Menschen in Deutschland. Warum
liegt nach 60 Jahren Migration die emotionale Heimat in ihrem
Herkunftsland?
Protestbewegung im Südkaukasus: Scheiß doch auf Armenien
Die neue „Kackpartei“ nimmt sowohl Politiker als auch die Gesellschaft aufs
Korn. Ob sie bei der Wahl am 2. April antritt, steht noch nicht fest.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.