# taz.de -- Referendum: Entscheidungen aus zweiter Hand | |
> Das Referendum polarisiert türkeistämmige Menschen in Deutschland. Warum | |
> liegt nach 60 Jahren Migration die emotionale Heimat in ihrem | |
> Herkunftsland? | |
Bild: Bindestrich-Identitäten und Demokratie: Geht alles | |
Noch bis zum 9. April können Deutschtürk*innen für eine Verfassungsänderung | |
in der Türkei stimmen. Warum ist die AKP, die bei den Parlamentswahlen 2015 | |
von 60% der wahlberechtigten Auslandstürken gewählt wurde, so beliebt? | |
Eine mögliche Erklärung wäre, dass mit der Machtübernahme der AKP die | |
Türkei zunächst wirtschaftlich wie politisch einen Aufschwung erlebte und | |
lange als das „reformfreudigste Land Europas“ galt. Zudem war sie Vorbild | |
für die Vereinbarkeit des Laizismus mit einer muslimischen | |
Bevölkerungsmehrheit und Demokratie – besonders für die islamischen Länder | |
nach den Anschlägen vom 11. September 2001. | |
Die „alte“ Heimat gab den Auslandstürk*innen durch das neue | |
Selbstbewusstsein eine Neudefinition ihrer Identität. Möglich wurde das | |
unter anderem durch die Einführung der Wahlbeteiligung von 2,8 Millionen | |
Auslandstürk*innen (davon 1,4 Millionen in Deutschland), die erstmalig 2014 | |
an die Urnen durften. Vor dieser Zeit herrschte eine Art „Wahltourismus“, | |
da man an der türkischen Grenze bereits wählen konnte. | |
## Eine emotionale Wahl | |
Juristisch wird der Ausgang des Referendums für die Auslandstürk*innen | |
keine unmittelbaren Folgen haben. Deshalb sind ihre | |
Entscheidungsmotivationen aus einem für sie weitgehend sozial sicheren | |
Lebensmittelmittelpunkt heraus eher emotionaler Natur, ohne konkrete | |
Konsequenzen befürchten zu müssen. | |
Dominierende Argumente wie „Wenn die (also „das Ausland“, „der Westen�… | |
die „internationalen Mächte“) schon dagegen ist, dann kann es nur richtig | |
sein“, „Warum mischt sich das Ausland eigentlich in die innertürkischen | |
Angelegenheiten ein“ oder „das Ausland bzw. die westlichen Mächte wollen | |
keine starke Türkei“ dienen einer vereinfachenden Erklärung. | |
Warum sieht ein Teil der Deutschtürk*innen nach über 60 Jahren Einwanderung | |
ihre emotionale Heimat nach wie vor im Herkunftsland? Und warum unterstützt | |
sie weitgehend unreflektiert einen Verfassungsentwurf, dem ein | |
demokratischer Rückschritt durch die andere Bevölkerungshälfte und auch | |
durch die Venedig-Kommission attestiert wird? | |
## Diskriminierung trotz Integration | |
Diese Spannungen bieten – wenn auch ungewollt – eine Gelegenheit, einen | |
ernsthaften Diskurs entlang der Fragen über das neue „Wir-Verständnis“, | |
Teilhabe, Bindestrich-Identitäten und Demokratieverständnis zu starten. | |
Eigentlich eine längst überfällige Diskussion. | |
Die Nachfolgegeneration ehemaliger „Gastarbeiter*innen“ fordert | |
Chancengerechtigkeit beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen ein. Mit | |
erfolgreichen Bildungsbiographien besetzen sie zunehmend qualifizierte | |
Positionen auf dem Arbeitsmarkt, in den Medien, der Politik. Als | |
Unternehmer schaffen sie Arbeitsplätze oder bereichern die | |
Kulturlandschaft. | |
Trotz positiver Entwicklungen sind sie nach wie vor Benachteiligungen in | |
Bildungssystem und auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgesetzt. | |
Ungleichbehandlungen werden mit den Jahren diskriminierender empfunden. | |
Doch die Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft ab Mitte der 2000'er | |
Jahre hat diesen ansatzweise positiven Integrations- und Teilhabeprozess in | |
Teilen der Deutschtürk*innen gebremst. | |
## Rückzug ins Ursprungsmilieu | |
Im Spannungsfeld stehen weitere ungelöste Konfliktfelder: der Vorwurf, | |
PKK-Aktivisten und Sympathisanten zu dulden, das ungelöste NSU-Verfahren, | |
die Armenien-Resolution des Bundestages, die doppelte Staatsbürgerschaft, | |
muttersprachlicher Unterricht, der Umgang mit den Anhängern der – in der | |
Türkei als Terrororganisation eingestuften – Gülen-Bewegung und die | |
überwiegend defizitorientierte Berichterstattung über die Deutschtürk*innen | |
oder die Türkei. Dies alles und noch viel mehr führte im Zeitverlauf zu | |
einer Vertiefung der Krise sowohl in den bilateralen Beziehungen als auch | |
zwischen Teilen der Deutschtürk*innen zu Deutschland. | |
Der gestiegene Rechtfertigungsdruck bringt unterschiedliche | |
Bewältigungsstrategien mit sich: grob gezeichnet ist das der Rückzug in das | |
Ursprungsmilieu über eine Bindestrich-Identität bis hin zur Assimilierung – | |
das Ergebnis ist eine sehr heterogene deutschtürkische Community. Diese | |
Heterogenität wird entlang der innenpolitischen Entwicklungen im | |
Herkunftsland weiter verstärkt. | |
Die Opposition attestiert der Regierung in der Türkei autoritäre Züge mit | |
der Folge einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Spaltung zwischen | |
Anhängern und Gegnern der AKP. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht sie nun | |
entlang der parteiübergreifenden Trennlinie im anstehenden Referendum. | |
## Inner- und deutsch-türkischer Diskurs ist längst überfällig | |
Diese Bipolarität erreicht derzeit mit voller Wucht die Deutschtürk*innen. | |
Sie sehen sich der Herausforderung ausgesetzt, Stellung zu den | |
Entwicklungen im Herkunftsland zu beziehen: sich zu positionieren, ihre | |
politische Meinung zu erklären und einen Teil ihrer Identität zu | |
rechtfertigen. Dies gilt nicht nur zwischen Herkunftsdeutschen und | |
Deutschtürk*innen, sondern auch innerhalb der türkeistämmigen Community. Es | |
laufen unterschiedliche Weltbilder, Wertevorstellungen, | |
Demokratieverständnisse und Identitäten nebeneinander. Abweichende | |
Vorstellungen werden populistisch als „Vaterlandsverrat“, oder | |
„Assimilation“ öffentlich denunziert. | |
Die dringend notwendige Sachlichkeit über die Vor- und Nachteile der | |
Verfassungsänderung weicht einer emotionalisierenden und chauvinistischen | |
Debatte, die durch den Großteil der Mainstream-Medien in der Türkei | |
begleitet und auch auf die Auslandstürk*innen übertragen wird. Deshalb ist | |
sowohl ein inner-deutschtürkischer als auch ein deutsch-türkischer Diskurs | |
längst überfällig – der allerdings im Rahmen der anstehenden Bundestagswahl | |
nicht politisch instrumentalisiert werden darf. | |
7 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Caner Aver | |
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