# taz.de -- SPD-Politiker Juratović über Balkanpolitik: „Alles auf einmal a… | |
> Sigmar Gabriels neue Initiative kann Ex-Jugosalwien und Albanien an die | |
> EU heranführen. Das sagt MdB Josip Juratović vom Auswärtigen Ausschuss. | |
Bild: „Ich bin schon über 20 und finde noch immer keine Arbeit“ steht auf … | |
taz: Herr Juratović, ihr Parteifreund, der deutsche Außenminister Sigmar | |
Gabriel und sein tschechischer Kollege Lubomír Zaorálek wollen am Mittwoch | |
ein neues Konzept für die deutsche und europäische Balkanpolitik vorlegen. | |
Warum ist das nötig? | |
Josip Juratović: Nach Ende des Jugoslawienkriege 1999 haben die Leute auf | |
dem Westbalkan gehofft, dass ihre Länder jetzt schnell in die EU | |
aufgenommen werden. Und das dabei demokratische Rechtsstaaten entstehen, in | |
denen ein mit Europa vergleichbarer Wohlstand herrscht. Stattdessen | |
bestimmen dort heute Nationalismus, Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit | |
den Alltag. 50 Prozent der unter 25jährigen haben keine Arbeit – in der | |
ganzen Region. | |
Das hat Gründe. Slowenien ist heute bei 140 Prozent seiner | |
Vorkriegs-Wirtschaftsleistung, Kroatien bei um die 100 – und alle anderen | |
Länder der Region schaffen heute gerade mal 70-80 Prozent. Um das zu | |
ändern, muss die regionale Zusammenarbeit endlich konkreter werden, in | |
erster Linie bei der Energieversorgung, der Infrastruktur und dem Aufbau | |
eines gemeinsamen Marktes. | |
Seit Zusammenbruch des Kommunismus in Albanien sind 27 Jahre vergangen, der | |
Krieg in Bosnien endete vor 21, der im Kosovo vor 18 Jahren. Bulgarien und | |
Rumänien sind seit 10 Jahren EU-Mitglieder, auf dem Westbalkan herrscht | |
Stillstand. Warum jetzt ein neuer Vorstoß? | |
Sigmar Gabriel weiß um die akute sicherheits- und europapolitische | |
Tragweite der Probleme auf dem Westbalkan. Dort sehen wir nämlich schon | |
seit über zwei Jahrzehnten, was sich Nationalisten wie Kaczyński, Orbán und | |
Le Pen als Weg für Europa vorstellen. Dagegen müssen wir konkret handeln. | |
Zumal auf dem Westbalkan die Nervosität steigt: Die Leute verlieren nicht | |
nur den Glauben, dass sie irgendwann einmal EU-Bürger sein werden – sondern | |
dass überhaupt irgendwelche Fortschritte möglich sind. | |
Die Menschen auf dem Westbalkan sind total zermürbt. Sie fragen sich: Was | |
ist unsere Zukunft, wo geht es hin? Sie wollen nichts anderes, als normal | |
leben, dass heißt sie wollen Arbeit, sie wollen soziale Sicherheit und ein | |
bisschen von dem Wohlstand, den man in Westeuropa hat. Es ist | |
niederschmetternd zuzusehen, wenn Leute, die früher mal normal gelebt | |
haben, teilweise gut situiert waren, Essen in Mülltonnen suchen. Und die | |
Jungen wandern zu zehntausenden aus. | |
Und die, die bleiben? | |
Haben den Eindruck, dass alles, was negativ war an der Vergangenheit ihrer | |
Länder, überlebt hat – und alles, was positiv war, vernichtet wurde. Obwohl | |
Jugoslawien eine Diktatur war gab es dort ja auch Dinge, die funktioniert | |
haben. Das Land war relativ wohlhabend, es gab gewisse soziale Rechte. Seit | |
seinem Zerfall ist der Lebensstandard immer weiter gefallen und soziale | |
Standards gibt es nicht mehr. | |
Auch die Rechte von Minderheiten waren in Jugoslawien gesetzlich geschützt. | |
Heute ist Bosnien der letzte rassistische Staat Europas: Dort kann man nur | |
zum Staatsoberhaupt gewählt werden, wenn man den staatsbildenden Völkern – | |
als Bosnjiaken, Kroaten oder Serben – angehört; Angehörige von Minderheiten | |
wie Juden oder Roma sind per Gesetz von diesem Amt ausgeschlossen. | |
Das tut mir als jemand, der aus dem Widerstand gegen die Kommunisten kommt, | |
besonders weh: ich muss feststellen, dass die alten Herrscher es besser | |
konnten, als die heutigen. | |
Viele Bürgerinnen und Bürger meinen, schuld an diesen Zuständen sei ein | |
Komplott aus Teilen der Eliten aus den Zeiten der kommunistischen Diktatur, | |
besonders aus Geheimdiensten und Militär, aber auch der organisierten | |
Kriminalität, die auf dem Balkan sehr mächtig ist, den Führern der | |
Religionsgemeinschaften – Akteure, die auf keinen Fall in die EU wollen, | |
weil dort ihre Machtposition bedroht wäre; gegenüber denen fühlen sich die | |
einfachen Menschen richtigerweise machtlos. | |
Doch es gibt auch andere Entwicklungen. In Bosnien oder Kroatien laufen | |
heute ganz selbstverständlich serbische Filme, kroatische und bosnische | |
Musiker spielen ständig irgendwo in Serbien, alle schauen alle TV-Sender. | |
Auch die Wissenschaft ist eng vernetzt, Professoren aus Sarajevo | |
unterrichten in Belgrad, Belgrader in Zagreb, schon deshalb weil es überall | |
zu wenig Professoren gibt. Einer der größten Investoren in Serbien ist ein | |
Kroate, ich lerne auf meinen Reisen immer mehr Unternehmer kennen, die in | |
der ganzen Region Geschäfte machen. | |
In der Wirtschaft, an den Unis und in der Zivilgesellschaft funktioniert | |
also die regionale Kooperation schon längst. Das muss jetzt endlich auch im | |
politischen Bereich anfangen, also dass man endlich einen gemeinsamen Markt | |
schafft und dabei die Menschen, die in mehreren Ländern der Region aktiv | |
sind, auch rechtlich absichert. | |
Die europäischen Werte, die europäische Idee sind auf dem Westbalkan schon | |
lange angekommen. Jetzt müssen sie durch konkrete Maßnahmen unterstützt | |
werden – durch eine regionale Infrastruktur, Zollfreiheit zwischen allen | |
Ländern und Rechtssicherheit. | |
Auf dem Balkan träumen alle von Investoren. Aber wer soll zum Beispiel in | |
dem knapp 2-Millionen-Einwohnerland Kosovo investieren ohne Zugang zu den | |
Märkten der Nachbarstaaten zu haben? So viele Menschen leben in jeder | |
größeren europäischen Stadt. Außerdem wollen Investoren, dass ihre Maschine | |
an 7 Tagen 24 Stunden lang laufen. Warum sollte jemand in einem Staat wie | |
Kosovo Millionen Euro investieren, wenn dort regelmäßig für 5, 6 Stunden | |
der Strom ausfällt. | |
Wie will der aktuelle Vorstoß – im Gegensatz zu seinen Vorgängern (siehe | |
Kasten) – diese Zustände ändern? Was ist neu an Gabriels Westbalkan-Plan? | |
Ich denke, dass man jetzt erkannt hat, dass Instrumente wie der | |
Stabilitätspakt oder die Deutsch-britische Initiative gut und schön waren – | |
aber man muss auf dem Westbalkan dran bleiben. Das heißt konkret: | |
Zusätzliches Geld und fachliche Unterstützung aus der EU und Deutschland | |
zur Beschleunigung konkreter Projekte. Und das verbunden mit | |
Doppelkonditionen. | |
Wir sagen also: Ihr bekommt Unterstützung beim Ausbau der regionalen | |
Infrastruktur – aber ich möchte dafür, dass ihr das gerade gegründete | |
gemeinsame Westbalkan-Jugendwerk RYCO finanziell unterstützt. | |
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, während und nach Ende der | |
Jugoslawienkriege hat man versäumt den Eliten auf dem Westbalkan zu sagen: | |
Ja, es gibt Völkerrecht, Souveränität und so weiter – aber auch die | |
Menschenrechte. Wenn das nicht miteinander verbunden wird, dann stärkt man | |
die Nationalisten, die in der Region ja so paradox das klingt eng vernetzt | |
sind, sich wunderbar verstehen und sich aktiv gegenseitig unterstützen. | |
Den Nationalisten ist es gelungen, die Region immer weiter zu | |
fragmentieren. Aus einem größeren Raum wurden kleinere nationale Einheiten. | |
Es ist wie bei einer Schafsherde: Teilt man die Tiere in kleinere Gruppen, | |
kann man besser verhindern, dass einzelne die Herde verlassen. | |
Wie soll angesichts dessen die neue Initiative gegenüber den lokalen Eliten | |
durchgesetzt werden? | |
Auf dem Balkan haben traditionell Großmächte das Sagen. Deshalb muss man | |
den Eliten dort klar sagen: Ihr wollt eine Autobahn? Dafür müsst ihr das | |
und das und das tun. Das ist man in Europa nicht gewohnt. Hier setzt man | |
sich zusammen und geht davon aus, wenn etwas abgesprochen ist, dass wird | |
das auch so realisiert. | |
Außerdem müssen wir deutlich machen, dass es ohne regionale Zusammenarbeit | |
auch ein EU-Beitritt schwierig wird. Zwar ist regionale Zusammenarbeit nach | |
den Sezessionskriegen schwer anzupreisen, doch das müssen die Politiker | |
dort leisten. | |
Wir wollen ein Konzept, in dem Demokratie, Menschenrechte, Jugendarbeit, | |
Infrastruktur, alle Instrumente miteinander verkoppelt sind. Was die Eliten | |
vor Ort gerne haben ist, dass Europa einzelne Zugeständnisse in einzelnen | |
Ländern macht. Dafür lässt man sich zu Hause feiern, immer mit Verweis, | |
dass man etwas für die EU-Integration getan hat – aber dann bleibt alles | |
beim alten. Und dafür wird dann auch noch Europa verantwortlich gemacht, | |
weil es so aussieht als hätte Europa etwas versprochen und nicht gehalten. | |
Diesmal wollen wir – auf Augenhöhe mit allen regionalen Akteuren aber doch | |
ganz klar – bei allen Projekten dabei bleiben. Die Erfahrung von über zwei | |
ein halb Jahrzehnten zeigt: Wenn man das den Eliten vor Ort allein | |
überlässt, wird das nichts. | |
Die Deutsch-britische Initiative bzw. ihr Nachfolger, der so genannte | |
Berlin-Prozess haben leider gezeigt, dass man für einen 3,2-Millionenstaat | |
allein nur sehr schwierig Fortschritte erzielen kann – weder wirtschaftlich | |
noch bei Demokratie und Menschenrechten. Es ist sehr wichtig, dass die | |
Beitrittverhandlungen weiter gehen, konkret die | |
Rechtsstaatlichkeits-Kapitel müssen mit allen Beitrittskandidaten eröffnet | |
werden, denn das gibt der Zivilgesellschaft in der Region neuen Drive. | |
Auf dem Westbalkan muss man alles auf einmal anpacken. Das hat man hier in | |
Europa noch nicht begriffen. Infrastruktur, Energieversorgung, | |
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – es reicht nicht, einzelne Projekt in | |
einzelnen Ländern anzugehen, sondern das ist eine historisch | |
zusammengewachsene, vernetzte Region, auch als Wirtschaftsregion, und als | |
solche muss man sie behandeln. | |
Beim nächsten regelmäßigen Treffen der Westbalkan-Außenminister im Rahmen | |
des Berlin-Prozesses in sechs Wochen muss endlich geliefert werden. Zuerst | |
müssen wir uns natürlich Vorschläge aus der Region selbst anhören. Und | |
klar, die wollen wir unterstützen. Aber dann müssten wir auch klar machen, | |
was die Europäische Union unter welchen Bedingungen wo macht. | |
Warum eigentlich „Westbalkan“? Warum sagt man nicht einfach Ex-Jugoslawien | |
und Albanien? | |
Man versucht, den Begriff Jugoslawien zu umgehen, weil ihn die politischen | |
Eliten dort nicht wollen. Ganz anders als die normalen Menschen, bei denen | |
trifft man überall auf Jugo-Nostalgie. | |
Mir geht es nicht um Begriffe. Ich kann mit „Ex-Jugoslawien“ so gut leben | |
wie mit „Westbalkan“. Fakt ist doch, dass sich Slowenien bei Beginn des | |
Zerfalls Jugoslawiens schnell genug zurückgezogen hat; dann kommt Kroatien, | |
das sich selbst nur zum Teil als Balkan versteht. Beide sind heute | |
EU-Mitglieder. Es geht also um diejenigen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, | |
die nicht in der EU sind, genauso wie Albanien, das zwar über 40 Jahre lang | |
von der Außenwelt isoliert war, aber davor natürlich auch zur Region | |
gehört. Außerdem leben ja auch viele Albaner in Kosovo und Mazedonien. | |
Albanische politische Parteien in diesen Ländern fordern die Vereinigung | |
derjenigen Gebiete, die mehrheitlich von Albanern bewohnt werden, zu einem | |
Staat. Würde das zu neuen bewaffneten Konflikten führen? | |
Das würde sicher zu großen Probleme führen, denn eins ist klar: Die Grenzen | |
in Europa sind unveränderbar. Ich höre vom Balkan, dass es wieder | |
Spekulationen darüber gibt, dass die USA eventuell einer neuen | |
Grenzziehung, wenn sie friedliche verliefe, stillschweigen zustimmen | |
könnte. Auch in Bosnien droht die serbische Teilrepublik immer wieder mit | |
ihrer Abspaltung. Und wir wissen, dass nach dem Krieg jeder in Bosnien eine | |
Kalaschnikow abgeben hat – und eine vergraben. | |
Seit Ende der Kriege sind Zig Milliarden Euro an Hilfsgeldern auf dem | |
Balkan ausgegeben worden. Wie kann es sein, dass die Lage dort trotz aller | |
Unterstützung nach wie vor so schlecht ist? Warum herrschen dort nicht | |
längst Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und vor allem Wohlstand? | |
Ich treffe immer wieder auf meinen Reisen Leute die mir sagen: Dreht | |
unseren Eliten doch endlich den Geldhahn zu. Ihr finanziert die Missstände | |
hier mit Krediten, die wir irgendwann zurückzahlen müssen. Das ist auch die | |
Idee hinter den Doppelkonditionen. Wir sagen, ihr kriegt Geld – aber für | |
konkrete Projekte, nicht für euren maroden Staatshaushalt und für eure | |
total überdimensionierte Verwaltung. | |
Das wissen die Menschen vor Ort und das sagen sie uns auch. Unsere Problem | |
als Parlamentarier oder auch als Bundesregierung oder EU ist, dass wir | |
trotzdem nicht die Regierungen ignorieren können. Deshalb wurde über Hilfen | |
bisher immer mit Regierungen verhandelt – und dann nicht genug | |
kontrolliert, was mit dem Geld eigentlich passiert. Ich glaube, dass das | |
jetzt anders wird, weil die neue Initiative sich eben nicht primär an die | |
Politik in den einzelnen Ländern, sondern an die Zivilgesellschaft, | |
unabhängige Gewerkschaften und Unternehmerverbänden und die Wissenschaft in | |
der ganzen Region richten wird. Und zwar verbunden mit Kontrollen die | |
sicher stellen, dass Hilfsgelder und Investitionen richtig verwendet | |
werden. | |
Warum geben Sie der neuen Balkan-Initiative trotz aller absehbaren | |
Widerstände eine Chance? | |
Sigmar Gabriel war vor Ort und hat die Dinge gesehen. Und ich weiß, dass er | |
die Ernsthaftigkeit der Lage genauso einschätzt, wie ich. | |
31 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Rüdiger Rossig | |
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