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# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Kassel Buntes
> Irgendwas mit Kunst: Mit Documenta und Caricatura bringt die
> Hessenmetropole ab heute ihren nordstädtischen Charme in die weite Welt.
Ab sofort ist Kassel für 100 Tage the place to be. Und der Rest Welt kann
sich in den Arsch beißen! New York, Paris, Berlin-Mitte sind alle fünf
Jahre für diese 100 Tage nur noch auf den Plätzen. Venedigs Biennale oder
sonstige Kunst-Events, das MoMa, der Louvre oder die Tate Gallery sind
abgefunzt, denn vorige Woche öffnete erst die Caricatura und ab heute auch
noch die Documenta in Kassel ihre legendären Karten-Container.
Dazu wurde das Stadtwahrzeichen, der Herkules – stattliche 8,25 Meter hoch
– fertigrestauriert. Pünktlich zum 300. Geburtstag wurde Herr H. wegen
Nacktheit von Facebook gesperrt. Wenn nicht gerade Documenta ist, dann ist
in dieser Stadt alles Herkules – ein Baumarkt, eine Betonfabrik, sogar ein
Schädlingsbekämpfer. Herkules hat eine Keule, und damit schafft er
vielleicht eine Fliege mit sieben Streichen, denn Kassel ist auch die
Heimat der Brüder Grimm. Deren Brüder-Grimm-Denkmal steht ganzjährig am
Brüder-Grimm-Platz und wirkt wie eine kleine Stele an Minigolf-Bahn Nummer
neun.
Ab jetzt gibt es wieder täglich eine Schnitzeljagd zur Kunst quer durch die
Stadt, die Documenta hält ihre Besucher auf Trab. Einige Werke waren schon
vorab zu sehen, aber normalerweise hat Kassel mit Kunst nicht so viel zu
tun, besonders die Nordstadt, die wie in fast allen Städten Deutschlands
eine echte Nordstadt ist.
Deshalb bringt man die Kunst gern dahin, so haben alle was zu schauen. Die
angereiste Kunstwelt erlebt nicht nur Kunst, sondern auch echte
Nordstädter, die Nordstädter gehen zwar nicht zur Kunst, sie könnten sich
den Eintritt gar nicht leisten, aber die sehen dann auch mal die angereiste
Kunstwelt im eigenen Quartier und manche der Besucher können auch schon
knapp als Kunst durchgehen.
## Tendenz: unaussprechlich
Deutlich erkennbar ist die Tendenz der Berufungskommission für die
Künstlerische Leitung zu extrem schwer aussprechbaren Namen. Ein Müller
oder eine Meyer wäre ohne Chance. Vor fünf Jahren war es Carolyn
Christov-Bakargiev, dieses Mal Adam Szymczyk. Die Zeiten eines Rudi Fuchs
(Documenta7/1982) oder Manfred Schneckenburger (D6/1977 und D8/1989) sind
vorbei. Schon mit Jan Hoet (D9/1992) begannen die Schwierigkeiten. Wurde
der nun Hutt ausgesprochen, Huht, Hött oder Hütt? Immerhin gibt es vor Ort
das legendäre Brauhaus Hütt. Das, so die Gerüchte bis heute, hatte aus
Werbegründen diesen Belgier eingeschleust.
Ob die Documenta heute Morgen wirklich eröffnet, steht noch auf einem ganz
anderen Blatt, denn es mussten ja unbedingt zwei Ausstellungen sein, die
„der Pole“, wie man hier den polnischen Kurator Adam Szymczyk liebevoll
nennt, in diesem Jahr abziehen wollte. Eine Documenta in Kassel und vorweg
eine ähnliche, wenn auch nicht gleiche in Athen.
Zwei Ausstellungen, und hier hat er sich einfach verrechnet, sind nicht
zweimal die halbe Arbeit, sondern insgesamt mindestens die doppelte plus
Fahrt- und Flugstrecken. Allerdings hat sich das Kuratorium in Kassel
brillant herausgeredet. Man bezeichnet manche unfertige Arbeit als „in
progress“, andere sind einfach so. Szymczyk wörtlich: „Die wichtigsten
Gebäude in Athen sind schließlich auch die Ruinen!“ Dann fügte er nach
kurzem Überlegen an: „Auch die Landgrafen haben den Bergpark Wilhelmshöre
mit Ruinen bebaut! Absichtlich! Damit es sofort ‚ahl un‘ historisch'
aussah!“ Und ergänzte, bezogen auf seine Documenta14: „Wir zeigen hier so
viel Kram, das schafft sowieso kein Besucher komplett!“
Der Flughafen Kassel-Calden allerdings feiert die ersten Flugzeugstarts
seit Ende der Documenta13 (2012), allesamt in Richtung Athen, wo die
angereisten Kasseler scheinbar die einzigen Besucher der dortigen Documenta
waren. Jedenfalls will Kassel-Calden die Landebahn am Hans-Eichel-Terminal
nach dem Künstlerischen Leiter auf „Adam-Szymczyk-Landebahn“ taufen.
Wer allerdings etwas auf sich hielt und hält, ist schon seit einer Woche in
Kassel, nicht nur um vorzuglühen, sondern um das eigentliche Kasseler
Sommerspektakel zu erleben, denn da eröffnete die Caricatura ihre „C VII“,
die siebte Großausstellung (seit 1987), wohingegen die Documenta, die es
viel, viel länger gibt (seit 1955), mit der D14 erst zum vierzehnten Male
sich zeigt. Die „C VII“ ist eine Leistungsschau der deutschsprachigen
Cartoonisten- und Karikaturistenszene. Künstler, die sich zu fein sind für
die Hochkunst der Documenta. So meint Rudi Hurzlmeier: „Da sind zu viele
Galerien im Spiel!“ Und Polo ergänzt: „Viel zu viel Kommerz!“, während
Rattelschneck abwinkt: „Zu viele Ärztegattinnen!“ Allesamt stellen sie am
Kulturbahnhof mitten in der Stadt aus unter dem einleuchtenden wie
eingängigen Titel „Systemfehler“.
Das ist programmatisch zu verstehen, denn der eigentliche Systemfehler
besteht darin, dass all diese wunderbaren Arbeiten nicht im Rahmen der
Documenta zu sehen sind, wobei es umgekehrt ziemlich einleuchtend ist,
warum die Documenta-Werke nicht in der Caricatura ausgestellt sind: Viele
der Kunstwerke sind zu schwer, oft zu groß, vor allem aber sind die meisten
nicht lustig genug! Ein Kriterium, das die Documenta komplett negiert, aber
die Bürger stimmen hier mit den Füßen ab, und der Kasseler geht seit
Gründung der Caricatura 1984 – die anders als die Documenta ganzjährig und
nicht nur alle fünf Jahre präsent ist – zum Lachen in den Kulturbahnhof.
## Tendenz: von Hass zu Liebe
Und worin besteht genau der Unterschied der beiden Großschauen? Der
verantwortliche Caricatura-Leiter Martin Sonntag gerät ins Schwärmen: „Die
Besucher erwartet die beste Ausstellung des Jahres und viel Spaß. Und
während die ernste Kunst die Leute verwirrt und ratlos zurücklässt, sorgen
wir mit der Komischen Kunst für Aufklärung – wir schaffen Orientierung!“
Früher hat der Kasseler die Kunst noch gehasst, besonders wenn sie von
Beuys war („Honigpumpe“ 1977/D6). Jetzt liebt er sie, auch weil sie nicht
mehr von Beuys ist. Seit Beuys 1986 einfach verstarb und zur Documenta8
(1987) nur noch der fünftausendfünfhundertste von siebentausend Bäumen im
Rahmen des Kunstwerks „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ gepflanzt
wurde, geht es mit den Besucherzahlen steil bergauf.
## Tendenz: rasierte Irritation
Kassel hat, neben der Kunst, viel Positives, aber natürlich auch Negatives,
und das sollten Besucher wissen. Die Nordhessen-Metropole hat weder
leckeres Bier noch mundende Weine, auch wenn ein zentraler innerstädtischer
Ort Weinberg heißt und ganz anderes verspricht. Wie mir Berliner Experten
versicherten, hat auch „die Curry“ ihre geschmacklichen Grenzen, und
trotzdem ist es in Kassel sehr schön, auch wenn die allermeisten
Restaurants mehr dem „All you can meat“ zuzurechnen sind.
Aber längst nicht jeder Bürger will auch Kunst, manche wollen
ausschließlich Burger. Direkt neben der Caricatura am Kulturbahnhof gibt es
eine Filiale von Burger King. Als zur Eröffnung der Caricatura C VII „Die
Wohnraumhelden“ aus Hannover auf dem Vorplatz ihren Song „Metrosexuell“
intonierten („Ich rasier mir meine Beine, ich rasier mir meinen Arsch, denn
ich bin metrosexuell, ich bin so verliebt in mein Spiegelbild“) kam es bei
den Bürgern mit Burger zu Irritationen wie zu besten Beuys-Zeiten.
10 Jun 2017
## AUTOREN
Bernd Gieseking
## TAGS
Kassel
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