# taz.de -- 20 Jahre „Jungle World“: So eine Zeitung | |
> Die „Jungle World“ wird 20 Jahre alt. Unserem Autor gibt sie bis heute | |
> das Gefühl, nicht allein zu sein. Eine persönliche Würdigung. | |
Bild: Jungle World war und bleibt die Hoffnung einsamer Linker | |
Viele Jahre lang habe ich mir jeden Donnerstag die [1][Jungle World ] | |
gekauft, nicht nur, weil sie eine gute Zeitung war, aus der man Dinge | |
erfuhr, die sonst kaum behandelt wurden, sondern vor allem, weil ich mich | |
dann weniger allein fühlte. Es gab Linke, in denen nicht der Drang rumorte, | |
den Zionismus und den amerikanischen Kulturimperialismus zu verdammen! Die | |
vom Asylantenheim-Abfackeln nicht betroffen und beschämt waren, sondern | |
Nazis und Rassisten einfach hassten! Die nie auf die hirnverbrannte Idee | |
kamen, sich zu fragen, ob [2][an Homöopathie], sanfter Medizin, Impfskepsis | |
vielleicht doch etwas dran sein könnte! Die einen nicht mit Appellen | |
traktierten, sondern Argumente vortrugen! Denen Identität nicht wichtig | |
war! | |
So eine Zeitung war das, jede Woche Texte, bei deren Lektüre ich mich nicht | |
mehr so allein fühlte wie sonst meistens, obwohl ich es objektiv betrachtet | |
war. Ich hatte ja keine Zeit, auf andere Weise links zu sein als den | |
Fernseher anzumuffen, ich musste Geld verdienen, mich um die Kinder | |
kümmern, stabil bleiben, ich war völlig desinteressiert daran, zu | |
irgendeiner Bewegung zu gehören oder auch nur mit mehr als zwei, drei | |
Leuten in meinem Leben über Politik zu reden (was hätte das schon | |
gebracht?). | |
Aber das bedeutete ja nicht, dass ich kein Linker war (was immer es hieß, | |
ein Linker zu sein), es bedeutete bloß, dass ich mich immer wieder so | |
allein und atomisiert fühlte, wie ich es war, und deswegen immer wieder | |
einigermaßen depressiv. Und dagegen half die Jungle World, so wie mir sehr | |
viel früher, als es noch Platten gegeben hatte, Platten geholfen hatten, | |
oder später, als sie noch nicht Ich-Marketing und Authentizitätsverwertung | |
waren, Weblogs. Stimmen, Texte, Sounds, die nicht schubsten, nicht auf | |
einen einredeten, nichts wollten von einem, sondern einem überließen, was | |
man mit ihnen anfing. | |
An dem Platz, an dem in Zeitungen sonst Leitartikel stehen, stand in der | |
Jungle World die „Homestory“, in der nie jemand die Welt verurteilte, wozu | |
auch, sie wird ja nicht erträglicher dadurch, dass irgendein | |
rechtschaffener Vorturner sie für abscheulich erklärt. | |
Die Rubrik „Deutsches Haus“, in der Woche für Woche akribisch rassistische | |
und neonazistische Attacken protokolliert wurden. Die Auslandsberichte, bei | |
denen ich mich oft fragte, warum die so viele gute Informationen und | |
Kontakte hatten (nach Mazedonien? nach Kasachstan?). Diese irre Kolumne | |
„Berlin beatet Bestes“, in der ein Sammler jede Woche über die Platten | |
erzählte, die er auf Flohmärkten aufgetan hatte. Ich las sie nie, aber ich | |
fand es schön, dass es sie gab. | |
Die Seite-zwei-Zeichnungen, in meiner liebsten saß ein Radiomoderator vor | |
seinem Mikrofon und sagte: „Ich verlese jetzt die Namen der Personen, die | |
mich am Arsch lecken können. Die nachfolgenden Sendungen verschieben sich | |
um etwa dreieinhalb Tage . . .“ Die verlässliche Bevorzugung der Kritik | |
gegenüber der „kritischen Solidarität“ und der „konstruktiven Kritik“… | |
offensichtliche Desinteresse, gesellschaftlich relevante Kultur zu | |
verhandeln, weil die gesellschaftlich irrelevante und individuell relevante | |
Kultur interessanter waren. | |
Die langen Riemen im Feuilleton, der Briefwechsel Uwe Nettelbecks mit Klaus | |
Wagenbach über eine Neuauflage der „Dolomiten“ zum Beispiel, die daran | |
scheiterte, dass Wagenbach nicht genug löhnen wollte. Die Schnelligkeit, | |
mit der die Jungle World auf irgendwelche lebensweltliche Mikrotrends | |
reagieren konnte. Und so weiter. | |
Irgendwann hörte ich damit auf. In den Spätis in meiner Umgebung war die | |
Jungle World immer öfter nicht mehr erhältlich, und natürlich hatte auch | |
ich damit begonnen, lieber im Internet zu lesen, man musste dafür nicht | |
raus und es kostete nichts, und unglücklicherweise ist es etwas völlig | |
anderes, im Internet zu lesen, als sich eine Zeitung zu holen und damit | |
hinzusetzen. Man bekommt nicht mehr wirklich mit, was die Leute, deren | |
Arbeit man schätzt, sonst noch tun, weil es auf der Seite, die man gerade | |
vor sich hat, links unten steht. | |
## Der Spirit bleibt | |
Aber immer wieder schaue ich noch rein, lese mich fest, denke: Wie irre, | |
dass es das noch gibt, wie kann man diesen Spirit 20 Jahre lange | |
durchhalten, und bin dankbar dafür. | |
Doch nicht ganz allein auf der Welt. Ich weiß schon, dass es darauf nicht | |
wirklich ankommt. Für mich allerdings schon. | |
8 Jun 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://jungle.world/ | |
[2] /Krankenkassen-und-Homoeopathie/!5404162 | |
## AUTOREN | |
Peter Praschl | |
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