| # taz.de -- Propaganda-Ausstellung in München: Jenseits der Interpretation | |
| > Das Münchner Lenbachhaus zeigt die Ausstellung „After the Fact. | |
| > Propaganda im 21. Jahrhundert“. Sie verfehlt die Brisanz heutiger | |
| > Propaganda. | |
| Bild: Einblick in die Ausstellung „After the Fact. Propaganda im 21. Jahrhund… | |
| Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu hinterfragen, was am 11. | |
| September 2001 wirklich geschah. Steht man vor der Installation von | |
| Hans-Peter Feldmann und blickt auf eine ganze Wand voller gerahmter | |
| Titelseiten vom 12. September 2001, fängt man an zu zweifeln, ob überhaupt | |
| eine Wirklichkeit existiert. Jede der Zeitungen möchte sich absetzen, dem | |
| Geschehen eine eigene Note verpassen, je nachdem welche Zeitung man gelesen | |
| hat, erwirbt man so ein anderes Bild des Ereignisses. | |
| Als Teil der Ausstellung „After the Fact. Propaganda im 21. Jahrhundert“, | |
| die bist zum 17. September im Münchner Lenbachhaus zu besichtigen ist, | |
| macht das Kunstwerk deutlich, dass Sprache immer nur eine Interpretation | |
| der Realität sein kann. Wie wir Dinge etikettieren, ist dabei auch für | |
| unser Handeln maßgeblich: Nennt man den 11. September eine | |
| „Kriegserklärung“, einen „Terrorakt“ oder die „Apokalypse“, so for… | |
| in jedem der Fälle eine völlig andere Reaktion. | |
| Ähnlich veranschaulicht dies der Dokumentarfilm „Ein neues Produkt“ von | |
| Harun Farocki, der Gespräche in einer Hamburger Unternehmensberatung | |
| aufzeichnet. Diese will in einem neuen Bürokomplex möglichst wenig Platz | |
| für ihre Angestellten aufwenden, verkauft dies jedoch als flexible | |
| Arbeitsbereiche, die größtmögliche „Freiheit“ für die Angestellten scha… | |
| sollen. Auf fast eindrucksvolle Weise erreichen die Protagonisten durch | |
| ihre Wortwahl, nicht den geringsten Zweifel an der Wünschbarkeit dieser | |
| Maßnahme zu lassen. | |
| Die Art und Weise der Interpretation von Geschehnissen passiert dabei nicht | |
| rein zufällig, sondern ist, selbst wenn sie scheinbar neutral daherkommt, | |
| mit gesellschaftlichen Machtstrukturen verbunden. Diese Idee wurde | |
| besonders durch den „Poststrukturalismus“ geprägt, eine | |
| sozialwissenschaftliche Strömung, deren zentraler Fokus auf Sprache und | |
| Diskurs liegt. Wir alle haben eine gewisse Sozialisierung erfahren, sind in | |
| gesellschaftliche Prozesse involviert und blicken so durch eine bestimmte | |
| Brille auf die Welt. In Sprache und Diskurs jeder Art verleihen wir unseren | |
| Annahmen über die Welt Ausdruck und konstruieren damit einen kleinen Teil | |
| der Wirklichkeit. | |
| Für den Philosophen Michel Foucault hat dieser Konstruktionsprozess | |
| gleichzeitig großes manipulatives Potenzial: „Ich setze voraus, daß in | |
| jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, | |
| selektiert, organisiert und kanalisiert wird“, erklärte er bereits 1970 in | |
| „Die Ordnung des Diskurses“. Wird das Interpretationspotenzial von Sprache | |
| also für bestimmte Interessen gezielt genutzt, können Teile eines | |
| Diskurses, wie hier die Wortwahl der Unternehmensberater oder die | |
| Titelblätter der Zeitungen, zu Propaganda werden. | |
| Propaganda, das gezielte Beeinflussen des Denkens und Handelns von Menschen | |
| zur Verfolgung von Interessen, hängt also eng mit der Verwendung von | |
| Sprache zusammen – ein Aspekt, der einem durch den Besuch der Ausstellung | |
| deutlich werden sollte. Was man jedoch fast vergeblich sucht, ist das, was | |
| Propaganda heute so brisant macht und was sicher auch den Titel der | |
| Ausstellung inspiriert hat. Propaganda ist heute mehr und mehr „after the | |
| fact“ oder „postfaktisch“, ein Schlagwort von so großer Reichweite, dass… | |
| von der Gesellschaft der deutschen Sprache zum Wort des Jahres 2016 gewählt | |
| wurde. | |
| Es geht nicht mehr nur um Interpretationsspielräume, die Selektion von | |
| Information oder den Ausschluss der Betroffenen vom Dialog – in der | |
| Ausstellung von Marge Monko verbildlicht, in deren reinszenierter Talkshow | |
| anstatt Angehörige der privilegierten Gruppen die betroffenen | |
| marginalisierten Gruppen selbst über ihre Zukunft diskutieren. Es reicht | |
| nicht mehr, die Frage zu stellen, ob Reality-TV wirklich live und | |
| authentisch das wahre Leben abbildet, wie die Malereien „Everything is | |
| Said“ von John Miller thematisieren, wenn die Gesellschaft schon längst | |
| einen Schritt weiter ist. Denn einer bemerkenswerten Anzahl an Menschen ist | |
| es nicht nur gleichgültig, ob solche TV-Formate der Realität entsprechen, | |
| sie akzeptieren sogar offensichtliche Lügen und ignorieren Tatsachen in | |
| viel weiter reichenden Kontexten. | |
| Propaganda hat eine neue Dimension angenommen, hat die Abkehr von der | |
| Realität perfektioniert. In der postfaktischen Gesellschaft wird gnadenlos | |
| gelogen, die Lüge als legitimes Stilmittel hat in die politische Diskussion | |
| Einzug gehalten, oder anders gesagt, die vollkommene Selbstidentifikation | |
| mit der Realität: Was ich sage, ist wahr, weil ich es sage. | |
| Natürlich ist die in der Ausstellung gezeigte Propaganda Teil des | |
| Postfaktischen, aber es fehlt der Kern, die Essenz, das jetzt Wichtige. | |
| Verwendet man ein solches Schlagwort, einen solchen Kampfbegriff im Titel | |
| und setzt sich dann nicht in einer Arbeit umfassend mit seiner Bedeutung | |
| auseinander, ist das wohl mehr als eine verloren gegangene Chance. Nicht | |
| nur, weil die Ausstellung so ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wird, | |
| sondern weil sie nicht den Nerv der Zeit trifft. Hier geht es nicht um | |
| Trump, dem man gern mal die Bühne verwehren kann, sondern um ein | |
| gesellschaftliches Phänomen, das vielleicht eine neue Ära begründet hat. | |
| 6 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Luise Glum | |
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