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# taz.de -- Kohleausstieg auf Berliner Art: Jubel über ungenügendes Ziel
> Berlin feiert sich dafür, als erstes Bundesland den Kohleausstieg ins
> Gesetz geschrieben zu haben. Nun zeigt sich, wie schwer der Umstieg ist.
Bild: Ausgeraucht: Im Berliner Kraftwerk Klingenberg wird keine Braunkohle mehr…
Berlin taz | Mit spektakulären Protesten kennt Georg Kössler sich aus: Als
im Rheinland und in der Lausitz unter dem Motto „Ende Gelände“ Tagebaue
besetzt wurden, um gegen die Braunkohlenutzung zu protestieren, war der
32-Jährige im weißen Schutzanzug mit in der Grube. Am Wochenende war er
wieder im Einsatz, als über 100 Klimaaktivisten mit Booten und
Transparenten auf der Spree vor dem Braunkohlekraftwerk Klingenberg
unterwegs waren.
Doch diesmal wurde nicht protestiert, sondern gefeiert: Klingenberg ist an
diesem Mittwoch für immer vom Netz gegangen, in Berlin wird damit keine
Braunkohle mehr verfeuert. Und noch etwas ist anders: Georg Kössler ist
nicht mehr als Aktivist unterwegs, sondern als Politiker. Seit September
sitzt er für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und ist dort für
Klimapolitik zuständig.
Neben dem Aus für Klingenberg, das Betreiber Vattenfall schon unmittelbar
nach der Wahl angekündigt hatte, hat Kössler derzeit noch mehr gute
Nachrichten zu verkünden: Ab dem Jahr 2030 soll in Berlins Kraftwerken auch
keine Steinkohle mehr verbrannt werden. So steht es im überarbeiteten
„Energiewendegesetz“, das vergangene Woche ins Landesparlament eingebracht
wurde. „Berlin ist damit das erste Bundesland, das den Kohleausstieg per
Gesetz regelt“, sagt Kössler. „Das ist ein Signal an die ganze Republik.“
Jubel über einen Kohleausstieg bis zum Jahr 2030? Das erscheint für einen
ehemaligen Klimaaktivisten überraschend – nicht nur im Vergleich zu den
Forderungen der Tagebaubesetzer von „Ende Gelände“, die verlangen, dass
Deutschland „sofort“ aus der Kohlenutzung aussteigt.
Auch das renommierte Öko-Institut hält in Berlin einen weitaus schnelleren
Ausstieg für notwendig. Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens
einzuhalten, müssten die verbliebenen Berliner Steinkohlekraftwerke schon
2019 vom Netz gehen, schrieben die Wissenschaftler des Instituts im Januar
in einer Studie für den Umweltverband WWF. Der Thinktank Climate Analytics,
der einen EU-weiten Kohleausstiegsplan zur Umsetzung der Paris-Ziele
erarbeitet hat, nennt 2025 als spätestes Abschaltdatum für die letzten
Berliner Kohlekraftwerke.
Viel Kritik gibt es an den Plänen der Landesregierung trotzdem nicht. Der
WWF etwa – immerhin Auftraggeber der Studie mit dem Enddatum 2019 – lobt
das Gesetz ausdrücklich: „Berlin kann damit eine Vorreiterrolle für
Gesamtdeutschland einnehmen und beweisen: Die schnelle Abkehr von der Kohle
ist möglich und nötig“, erklärte Klimareferentin Viviane Raddatz. Auf
Nachfrage erklärt sie zwar: „Das konkrete Datum ist uns natürlich zu spät�…
– aber in die Pressemitteilung hat es dieser Satz nicht geschafft.
Das Bündnis „Kohleausstieg Berlin“, zu dem sich VertreterInnen mehrerer
Umweltgruppen zusammengeschlossen haben, fordert in seiner Stellungnahme
zum Berliner Gesetz zwar einen Kohleausstieg „deutlich vor 2030“ – doch
auch hier klingt die Kritik erstaunlich zurückhaltend.
## Eng verwobene Akteure
Mit etwas bösem Willen ließe sich eine einfache Erklärung für die
freundliche Rezeption der neuen Berliner Klimapolitik finden: Nicht nur
Georg Kössler ist eng mit der Klima-Szene verwoben. Die von den Grünen
nominierte parteilose Umweltsenatorin Regine Günther war zuvor Klima-Chefin
beim WWF. Und der langjährige hauptamtliche Campaigner vom „Kohleausstieg
Berlin“, Stefan Taschner, sitzt seit September ebenfalls für die Grünen im
Abgeordnetenhaus – und hält einen Ausstieg bis 2020 für
„überambitioniert“. Kritik träfe also quasi die eigenen Leute.
Doch tatsächlich ist die Sache wohl etwas komplizierter. Die Grünen erleben
in Berlin gerade, dass es sehr viel schwieriger ist, Veränderungen wirklich
umzusetzen, als sie nur zu fordern. Einfach abschalten lassen sich die
Berliner Kohlekraftwerke allein deswegen nicht, weil sie nicht nur Strom
produzieren, sondern auch Wärme. Jede dritte Wohnung in der Hauptstadt
hängt am Fernwärmenetz. Das ist effizient, schafft aber ein Problem: Wenn
nicht viele davon künftig kalt bleiben sollen, muss Ersatz für die
Kohlekraftwerke her, bevor sie abgeschaltet werden.
Biomasse, auf die Berlin lange als Alternative zur Kohle gehofft hat, steht
nur in sehr begrenztem Umfang zur Verfügung und scheidet darum als Lösung
im großen Stil aus. Als schnellen Ersatz bieten sich darum vor allem
Gaskraftwerke an. Die produzieren bei gleicher Leistung nur etwa halb so
viel klimaschädliches CO2 wie ein Steinkohlekraftwerk. Das hilft der
Klimabilanz kurzfristig, ist für die langfristigen Ziele aber ebenfalls zu
viel. „Ein neues Gaskraftwerk läuft mindestens 20 Jahre“, warnt der neue
Grünen-Energieexperte Taschner. „Das muss man sich gut überlegen.“
Eine Alternative könnte es sein, das Wasser für die Fernwärme mit
überschüssigem Wind- und Sonnenstrom zu erhitzen und in großen Speichern
aufzubewahren, bis die Wärme gebraucht wird. Eine erste entsprechende
Anlage plant Vattenfall für das Jahr 2020. Ein Gesamtumstieg würde jedoch
dauern.
Und nicht zuletzt ist die Jahreszahl 2030 auch das Ergebnis von
Koalitionsverhandlungen – mit einem Partner, der noch immer eng mit der
Kohlebranche verbunden ist. Die Grünen verteidigen darum zwar einerseits
das beschlossene Enddatum, erklären aber zugleich einen früheren Ausstieg
zum Ziel.
Auch Umweltsenatorin Regine Günther räumt gegenüber der taz eine
„Herausforderung für den Berliner Senat“ ein: die Lücke zwischen dem
politisch Beschlossenen und dem wissenschaftlich Notwendigen „soweit wie
möglich zu schließen“.
25 May 2017
## AUTOREN
Malte Kreutzfeldt
## TAGS
R2G Berlin
Braunkohle
Schwerpunkt Klimawandel
Kohleausstieg
Nachhaltigkeit
Braunkohle
Braunkohle
Vattenfall
EU
Pariser Abkommen
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