| # taz.de -- Inga Humpe im Gespräch: „Wer nicht wählt, ist ein Arschloch“ | |
| > Die Sängerin von 2raumwohnung über die politische Dimension des Tanzens, | |
| > den alltäglichen kleinen Weltuntergang und die freie Liebe. | |
| Bild: Feiern lernen heißt Gesellschaft lernen, denn feiern kann man nicht alle… | |
| taz.am wochenende: Frau Humpe, Sie scheinen Expertin für das Thema | |
| Apokalypse zu sein: Wann geht denn nun die Welt unter? | |
| Die Welt geht doch nicht unter. Die geht immer nur ein bisschen unter, dann | |
| geht sie wieder auf. Aber seit wann bin ich Expertin für dieses Thema? | |
| Wenn man „Nacht und Tag“, das neue Album Ihres Projekts 2raumwohnung, hört, | |
| drängt sich dieser Eindruck auf. „Was ist mit der Welt, will sie | |
| untergehn?“, fragen Sie da in einem Song. In einem anderen singen Sie: „Wo | |
| sind die Augen, in die ich sehen will, bevor alles schwarz wird?“ | |
| Ich gebe zu, ich denke schon öfter über dieses Thema nach. | |
| Seltsamer Zeitvertreib. Macht Ihnen das keine Angst? | |
| Ich mache mir Sorgen, aber ich verschwende ziemlich viel Energie darauf, | |
| keine Angst zu haben. Angst hilft ja auch nicht weiter. Ein gutes Mittel | |
| gegen die Angst ist, aktiv zu werden, zu Pro-Europa-Demos gehen. Man darf | |
| sich der Angst nicht hingeben, sonst ist man empfänglicher für die | |
| Angstmacherei von Politikern und Medien, für Fake News. Ich bin ja ein Fan | |
| der Aufklärung. Ich glaube, die hilft immer noch am besten gegen die Angst. | |
| 2raumwohnung sind allerdings eher bekannt geworden mit entspannten Liedern | |
| zum unbeschwerten Feiern. | |
| Wir hatten aber, auch wenn das gern überhört wurde, immer auch düstere | |
| Lieder. Es gab auf jedem Album ein Lied über den Tod. Aber ja, ich muss | |
| zugeben: „Nacht und Tag“ ist in gewisser Weise ein Wendepunkt. 2Raumwohnung | |
| ist ein Kind der Club-Kultur, des Techno und des Gefühls, der Weltfrieden | |
| stände kurz bevor. Das haben wir jahrelang gelebt. Aber daran kann man | |
| heute ja nun nicht mehr glauben. Leider, muss ich sagen. | |
| Tatsächlich hätte ich mir vor zehn Jahren nicht vorstellen können, dass | |
| sich die Welt so negativ entwickeln könnte, dass wir wieder ernsthaft Angst | |
| vor Krieg haben müssen, dass sich so ein komischer Machismo breit macht, | |
| dass überall Despoten an die Macht kommen. | |
| Haben Sie damals tatsächlich an dieses Heilsversprechen des Techno | |
| geglaubt? | |
| Ja, wir haben daran geglaubt im Jahr 1993. | |
| „1993“ heißt auch der zentrale Song Ihres neuen Albums. | |
| 1993 war der Sommer der Liebe in Berlin. Ich habe bis Anfang der nuller | |
| Jahre fest daran geglaubt, dass es nie mehr schlimm werden kann, dass jetzt | |
| alles nur noch besser wird, dass sich die USA und Russland vertragen, dass | |
| in Afrika niemand mehr hungert, Palästina als Staat anerkannt wird und im | |
| Nahen Osten der Frieden ausbricht. | |
| All das schien Ihnen 1993, während Sie tanzten, tatsächlich möglich? | |
| Ich dachte damals allerdings nicht groß über China nach, muss ich zugeben | |
| (lacht). Aber ja, wir haben fest daran geglaubt, dass sich die Welt im | |
| Übergang in eine hippieähnliche Utopie befindet. Bald würde es allen mit | |
| einem schönen Grundeinkommen richtig gut gehen. | |
| Wie naiv war es zu glauben, dass der Weltfrieden durch Tanzen zu erreichen | |
| wäre? | |
| Hinterher ist man immer schlauer. In der Rückschau war es natürlich sehr | |
| naiv. Es war ein einfacher Gedanke, aber gerade einfache Gedanken können ja | |
| manchmal eine ungeheure Kraft entwickeln und besonders stark sein. Und ja, | |
| heute kann man an diesen Gedanken nicht mehr glauben. Andererseits | |
| entstehen durch solche Idioten wie Trump, Putin oder Erdoğan aber auch | |
| Gegenbewegungen – und damit neue Hoffnung. | |
| Im Song „Sie geht los“ von 2013 beschreiben Sie jemanden, der von der Party | |
| quasi direkt in die politische Aktion startet. Kann Tanzen tatsächlich | |
| politisieren? | |
| Ein Sound kann mitreißen und Menschen zusammenführen. Und jeder Sound | |
| verkörpert ein Lebensgefühl und hat damit eine Wirkung auf Menschen. In | |
| meiner Erfahrung kann ein Sound, kann ein Song – auch unabhängig vom Text – | |
| eine Aussage haben. Ein Sound kann Widerstand ausdrücken oder Durchbruch, | |
| kann Freiheitswillen ausdrücken, ein Sound kann etwas bewusst machen. Diese | |
| Erfahrung habe ich jedenfalls damals in den neunziger Jahren gemacht. | |
| Aber kann ein Sound politisch zielgerichtet sein? Ich fürchte, auch Nazis | |
| hören gern Kirmes-Techno. | |
| Ja, das kann schon sein. Es gibt doch immer drei bis sieben Leute, die | |
| etwas völlig falsch verstehen. Das war ja auch damals schon so in den | |
| Neunzigern, dass in den Clubs im Osten viele Rechte waren. Und denen hat | |
| man dann wirklich absichtlich Ecstasy gegeben. | |
| Dann hat der Techno die Welt ja tatsächlich ein wenig besser gemacht … | |
| Ja, in meiner Wahrnehmung ist die Welt damals tatsächlich immer ein | |
| bisschen besser geworden. Ich bin in Berlin aufgewachsen mit der Mauer. | |
| Dann fiel die Mauer, die Leute tanzten zu Millionen auf dem Ku’damm. Ich | |
| bin einmal während einer Love Parade mit dem Flugzeug über Berlin geflogen | |
| – und da konnte man sehen, dass auf jedem Platz, überall getanzt wurde. | |
| Viele mögen das vergessen haben, aber das war damals so, das hat diese | |
| Stadt verändert. | |
| Viele Menschen sind damals nach Berlin gekommen, weil die Stadt ein großer | |
| Freiraum war. Da kamen Millionen zusammen, und nie ist jemand angegriffen | |
| worden, zu Schaden gekommen. Selbst wenn man halbnackt da herumlief, ist | |
| man nicht begrapscht oder angestarrt worden. Es gab Freiraum für | |
| Individualismus und sogar Exzentrik, aber vor allem wurde da ein großer | |
| Frieden demonstriert. | |
| Wenn das nicht politisch ist? Und das ist ja auch noch nicht zu Ende. Es | |
| gibt keine Love Parade mehr, aber es gibt immer noch Clubs überall auf der | |
| Welt, in denen getanzt wird, und ein Club ist immer auch ein Freiraum. | |
| Deswegen werden heute Clubs von Extremisten angegriffen … | |
| … in Istanbul, in Miami oder Paris, genau. Deswegen wird das Tanzen für | |
| mich auch immer ein politischer Akt sein, auch wenn er keine politische | |
| Parole hat. Ich glaube noch an den alten Spruch: Alles ist politisch. | |
| Deswegen glaube ich auch, dass die Welt eine bessere würde, wenn jeder sich | |
| ein bisschen mehr um den anderen kümmern würde. | |
| Wir müssen weg von dieser sehr menschlichen, aber auch kindlichen | |
| Sichtweise, immer das Beste für sich selbst haben zu wollen. Und deshalb | |
| tragen das Feiern und die Musik übrigens auch zu einer besseren Welt bei. | |
| Denn das geht nur in der Gruppe und nur, wenn man aufeinander Rücksicht | |
| nimmt. Allein feiern, das geht nicht. Ich glaube, die Gesellschaft könnte | |
| viel lernen von der Partykultur. | |
| Na, dann kippen wir jetzt einfach Ecstasy ins Leitungswasser, und alles | |
| wird gut. | |
| Die Idee hatten ein paar Leute auch schon damals. Aber ich fürchte, es | |
| reagieren nicht alle gleich auf Ecstasy. Nein, das wäre kein gutes | |
| Experiment. Obwohl … | |
| Also doch lieber wählen gehen? | |
| Na klar! Wer heute nicht wählt, der ist ein Arschloch. Weil er die | |
| Demokratie gefährdet. Wenn ich das immer höre: Die Roten sind scheiße, die | |
| Schwarzen und die Grünen auch, alle Politiker sind scheiße. Man muss doch | |
| nicht heiraten, sondern bloß wählen. | |
| Sie haben sich mal als grüne Stammwählerin bezeichnet. | |
| Ja, ich fürchte, ich komme da nicht mehr von runter. | |
| Fühlen Sie sich von den Grünen noch vertreten? | |
| Mehr als von allen anderen jedenfalls. Dass jetzt eigentlich alle Parteien | |
| für Umweltschutz und für den Atomausstieg sind, das ist ein Verdienst der | |
| Grünen. Klar hab ich auch schon mal an den Grünen gezweifelt, aber die SPD | |
| ist mir immer noch zu männerlastig und die Linke zu durchgeknallt. Sarah | |
| Wagenknecht hat einfach einen Schuss. | |
| Könnten Sie sich mit Schwarz-Grün anfreunden? | |
| Ja, als Experiment. Hauptsache, grün. Ich bin ja auch Merkel-Fan. Ihre | |
| Partei finde ich grauenhaft, aber sie finde ich schon sehr gut, ihren | |
| Pragmatismus, das Unemotionale, das harte Arbeiten, dass sie sich nicht | |
| aufspult und zu jedem Scheiß ihren Senf dazugeben muss. Es ist mir zwar ein | |
| wenig peinlich, aber ich fühle eine gewisse Verwandtschaft zur Kanzlerin. | |
| Auch wenn ich weder ihre Besonnenheit noch ihre Klugheit besitze. Sie ist | |
| einfach eine gute Regentin. | |
| Ein erstaunlicher Sinneswandel: In den achtziger Jahren waren Sie noch | |
| Punk, da spielten Sie in einer Band namens Neonbabies und hätten jemandem | |
| wie Merkel wahrscheinlich am liebsten ein Bier über den Kopf gekippt. | |
| Ja, so war das damals. Punk war Wut. Ich war ein Punk, und ich war | |
| jahrelang wütend, sehr wütend. Vielleicht hätte ich Merkel damals das Bier | |
| über den Kopf gekippt, aber ich kann mich an die Achtziger nicht mehr allzu | |
| gut erinnern. | |
| Dann stimmt der Spruch von Falco: Wer sich an die achtziger Jahre erinnern | |
| kann, hat sie nicht erlebt? | |
| Der stimmt schon, der Spruch. Aber bei mir liegt es nicht an den Drogen. | |
| Ich kann mich nicht so gut erinnern, weil ich die Achtziger verdrängt habe. | |
| Die haben mir lange nicht so gut gefallen wie die Neunziger. Die Achtziger | |
| waren mir zu kalt. Das war das Zeitalter der Großkotze. Und wenn wir schon | |
| von Falco sprechen: Der war total nett, aber nach außen auch ein | |
| sensationeller Großkotz. | |
| Es war eine schlimme Zeit: Die Musikindustrie war eine einzige Ansammlung | |
| von Großkotzen. Jeder fand alle anderen blöd und nur sich selbst gut. Ich | |
| war auch nicht besser, ich fand ja auch alle scheiße. Nein, ich habe nicht | |
| viel übrig für die Achtziger. Die Partykultur der Neunziger hat mich viel | |
| mehr und vor allem positiver geprägt. | |
| Diese Partykultur hat nicht zuletzt auch zu einem offeneren Umgang mit Sex | |
| geführt. Auch die Lieder von 2raumwohnung handelten immer wieder davon. | |
| Nun aber auf dem neuen Album scheint der Sex nicht mehr so wichtig zu sein. | |
| Täuscht der Eindruck? | |
| Heutzutage sind doch alle Popsongs voll mit Sex. Ich hab das Thema in den | |
| Jahren zuvor lang und breit behandelt, in Songs, in Interviews. Da darf ich | |
| jetzt etwas kürzertreten. | |
| Spielt Sex auch in Ihrem Leben eine kleinere Rolle? | |
| Nein, mich langweilt nur das Reden über Sex mittlerweile. Mir wird | |
| mittlerweile zu viel über Sex gesprochen, aber da bin ich ja nicht ganz | |
| unschuldig. Ich habe eine Zeit lang das Thema immer wieder von mir aus | |
| angesprochen, weil ich das Gefühl hatte, da muss sich etwas ändern. Und das | |
| hat es ja auch, zum Glück: Wenn man im Sommer durch Berlin läuft und die | |
| tollen Mädchen sieht, die in Hotpants rumlaufen und sich schön und stark | |
| fühlen, dann freue ich mich darüber. | |
| Sind Sie auch ein wenig neidisch, weil Sie noch in einer ganz anderen, in | |
| dieser Beziehung schwierigeren Zeit aufgewachsen sind? | |
| Neid ist jetzt nicht gerade mein Lieblingsgefühl, aber es kann schon sein, | |
| dass ich so ein Mädchen mal beneide. Aber diese Kämpfe, die ich geführt | |
| habe, die habe ich ja gewonnen – und das ist ein sehr schönes | |
| Erfolgserlebnis, sich als Kämpferin zu erleben, das werden diese Mädchen | |
| nicht so einfach haben. | |
| Sie haben sich die Freiheiten einfach genommen. Seit mehr als zwanzig | |
| Jahren leben Sie nun schon mit ihrem 2raumwohnung-Partner Tommi Eckart in | |
| einer offenen Beziehung. Die jungen Leute nennen das heute Polyamorie. | |
| Endlich sagt mir mal jemand, wie das heißt, was ich schon ewig mache | |
| (lacht). Aber als das Thema Polyamorie durch die Presse ging, habe ich | |
| schon gedacht: Schön, dass das endlich ein normales, gesellschaftlich | |
| akzeptiertes Thema geworden ist. Bei uns hieß das halt noch freie Liebe, | |
| aber das Prinzip ist dasselbe: Mach, was du willst, solange du anderen | |
| nicht damit schadest. | |
| Haben Sie das Gefühl, dass es diese sexuelle Befreiung wirklich gibt? | |
| Ja, die sexuelle Befreiung hat stattgefunden. Zugleich gibt es aber auch | |
| diesen Porno-Kahlschlag, der die Gefühle junger Menschen verwirrt. Die | |
| sexuelle Befreiung ist heute kein gesellschaftliches Problem mehr, sondern | |
| eher ein persönliches: Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist für | |
| einen jungen Menschen, heute eine individuelle Sexualität aufzubauen. | |
| Sie selbst sind jetzt 61 Jahre alt. Wie erfahren Sie das: Ist Sex im Alter | |
| noch immer ein Tabuthema? | |
| Lange nicht mehr so, wie es das früher war. Nicht zuletzt, weil es | |
| mittlerweile ein paar Filme wie „Wolke 9“ gibt. Für mich ist es eh | |
| eigentlich kein Thema. Sex im Alter ist sogar eine besonders schöne Sache, | |
| weil es nicht mehr so um die Performance geht. | |
| 20 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Winkler | |
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| Anspruch. |