# taz.de -- Spielfilm auf Arte: Mädchen sind eben zarter? | |
> Geht an die Nieren: Hans Steinbichler erzählt im Drama „Die unerhörte | |
> Frau“ von der Liebe einer Mutter, die ihr Kind beschützt. | |
Bild: Starke Hauptfiguren: Mutter Hanni (Rosalie Thomass) und Tochter Magdalena… | |
Vor 30 Jahren hat Joseph Vilsmaier (mit „Herbstmilch“) den modernen | |
Heimatfilm erfunden – dessen Spielarten sind unter dem neuen Look im Grunde | |
die alten geblieben. Marcus H. Rosenmüller („Beste Zeit“) liefert | |
zuverlässig die behaglich-idyllische Variante. Die neorealistisch-harte | |
Traditionslinie besetzt eben so zuverlässig Hans Steinbichler, dessen Filme | |
(seit „Hierankl“) nicht immer, aber oft genug in der | |
alpenländisch-ländlichen Heimat spielen und von Menschen handeln, die im | |
Dialekt verwurzelt sind. Konsequent hat er Matthias Brandt in seinem | |
zweiten „Polizeiruf“ von München aufs Dorf verschickt. | |
Apropos Krimi – wenn sich Steinbichler des populären Genres bedient, es | |
bedient, dann kommt da eben kein behaglicher „Heimatkrimi“ bei raus. Nicht | |
einmal dann, wenn das Produkt sich „Chiemseekrimi“ schimpft. Und so fast | |
ohne Schnee sieht der Wintersportort Bad Gastein („Das Dorf des | |
Schweigens“) nicht allzu idyllisch aus. | |
Und apropos Aussehen: An dem Punkt, an der Ausstattung manifestiert sich | |
ein leises Unbehagen an Steinbichlers jüngstem Film: „Nach einer wahren | |
Geschichte“, heute im Arte-Programm. Gewiss kommen gewisse Dinge auf dem | |
Land etwas später an als in der Stadt. Aber sollte man um die | |
Jahrtausendwende in der bayerischen Provinz tatsächlich noch mit Tönis Käos | |
Tastentelefon der Deutschen Bundespost von 1975 telefoniert haben? Es | |
könnte sich um eine bloße, einem begrenzten Budget geschuldete | |
Ungenauigkeit handeln – wie der Toyota Prius der dritten Generation auf den | |
Straßen New Yorks, der doch erst ab 2009 gebaut wurde. | |
Aber ein Telefon lässt sich mit deutlich weniger Aufwand austauschen als | |
ein Stadtbild. Und müsste eine um das Jahr 1970 geborene Jungbäuerin nicht | |
wenigstens ein paar Brocken Schulenglisch mehr parat haben? Steinbichler | |
(über-)zeichnet das Bild eines nicht nur boden-, sondern auch arg | |
rückständigen Landlebens, weil er offenbar meint, dass seine Geschichte nur | |
vor diesem Hintergrund plausibel wird. | |
## Eine kunstvolle Erzähltechnik | |
Dabei ist die Geschichte stark, und die Hauptdarstellerin ist es auch. | |
Rosalie Thomass („Beste Zeit“) spielt „Eine unerhörte Frau“, die ihre | |
Hilflosigkeit nie, niemals akzeptieren wird; deren Verzweiflung unbeirrbar | |
und voller Wucht über ihre Mitmenschen kommt. Vielleicht speist sich ihre | |
Kraft auch aus den Worten, die ein Richter zu ihr gesagt hat, als sie noch | |
ein Kind war: „Du, Johanna, bleib auf deinem geraden Weg! Nur der ist der | |
richtige.“ | |
Tatsächlich sieht der Zuschauer Johanna Schwaiger zunächst vor zwei | |
Richtern und vor zwei Richterbänken – einmal traditionell, holzvertäfelt; | |
einmal modern, aufgeräumt; beide Male erhöht. Als Kind, von dem der Richter | |
sagt, es dürfe nicht sein, dass ein junger Mensch so schutzlos dastehe, und | |
als Mutter eines Kindes, das sie allein beschützt. Die einen Zeitraum von | |
rund zwanzig Jahren überbrückende Parallelmontage deutet voraus auf eine | |
kunstvolle Erzähltechnik, die die Dinge – die Gegenstände der beiden | |
Verhandlungen – nur nach und nach preisgibt. Und wer in den vollen Genuss | |
dieser Erzählkunst kommen will, sollte jetzt besser nicht weiter- und auch | |
keine andere Inhaltsangabe lesen. | |
Es dauert lange 50 Minuten und 39 Sekunden – also etwas mehr als die Hälfte | |
des Films –, bis die Mutter endlich erfährt, was mit ihrer Tochter nicht | |
stimmt. Bis dahin zucken die verschiedenen Ärztinnen mit den Schultern und | |
sagen Sätze wie: „Mädchen tun manchmal so.“ Und: „Mädchen sind eben | |
zarter.“ Der Ehemann sagt: „Du willst doch, dass dein Kind krank ist.“ Das | |
Kind sagt: „Du, Mama. Muss ich sterben?“ Da ist die schlimme Diagnose nach | |
fünf Jahren Ignoranz und Inkompetenz dann auch eine Befreiung: „Es ist ein | |
Tumor, Frau Schwaiger.“ | |
Aber es wurde schon viel Zeit vertan: „Normalerweise werden solche Tumore | |
über die Nase herausgeholt, Frau Schwaiger. Der Tumor bei Ihrer Tochter ist | |
aber dafür schon zu groß. Jetzt brauchen wir jemanden, der das Risiko | |
eingeht, den Tumor durch die Schädeldecke herauszuholen. Das macht aber | |
hier in Deutschland keiner.“ Und so macht sich die Jungbäuerin auf in die | |
große Stadt New York. Wie sie da der Koryphäe auflauert, dem | |
Gehirnchirurgen mit Apfelsine und Küchenmesser demonstriert, wie er ihre | |
Tochter zu operieren habe – da ist dann wieder dieses leise Unbehagen, ob | |
es Steinbichler mit der ländlichen Schlichtheit seiner Heldin, die noch nie | |
eine Bibliothek von innen gesehen hat, nicht doch etwas übertreibt. Mit | |
ihrer Urgewalt. | |
## Der Film erzählt herzzereißend wie gänzlich unkitschig | |
Diese Urgewalt ist es allerdings auch, die sie, der manchmal die Worte | |
fehlen, die jedoch nie darum verlegen ist, damit umgehen lässt, wenn einer | |
ihrer beiden Söhne über seine kleine Schwester sagt: „Ich wär froh, wenn�… | |
weg wär. Richtig froh. Weil dann magst du mich vielleicht auch wieder.“ | |
Manchmal hilft nur noch in den See springen. An einem schönen Sommertag auf | |
dem Land, am See. An der Unmittelbarkeit dieser Szene gibt es kein leises | |
Unbehagen, das nur ein Detail ist in einem Film, der an die Nieren geht. | |
Der so herzzerreißend wie gänzlich unkitschig von der Liebe einer Mutter | |
erzählt, die ihr Kind beschützt. Die am Ende Recht hat und Recht bekommt, | |
auch vor Gericht. Man möchte sich nicht ausmalen, was ein anderer Regisseur | |
als Hans Steinbichler aus dem Stoff gemacht hätte. | |
14 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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Gustl Mollath | |
Schwerpunkt Berlinale | |
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