# taz.de -- Nach dem Referendum in der Türkei: Blasse rote Linien in Brüssel | |
> Mit extremen Forderungen beschädigt Erdoğan auch nach dem „Ja“ das | |
> Verhältnis zu Europa. Die EU tut so, als sei die Lage unter Kontrolle. | |
Bild: Wie soll die EU auf ihn reagieren? | |
Istanbul/Brüssel taz | Nach dem knappen, möglicherweise durch Wahlfälschung | |
herbeigeführten Sieg von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei der | |
Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems sieht es so aus, | |
als würde ein möglicher EU-Beitritt der Türkei endgültig in weite Ferne | |
rücken. Wer gehofft hatte, dass Erdoğan nach den harten Angriffen auf | |
Deutschland und andere EU-Länder nach dem Referendum rhetorisch abrüsten | |
würde, sah sich bereits bei seiner Siegesfeier getäuscht. | |
„51 Jahre“, rief der Präsident seinen Anhängern zu, „51 Jahre hat die EU | |
uns vor der Tür stehen lassen. Wenn jetzt kein entscheidendes Signal an uns | |
kommt, sollten wir vielleicht in einem weiteren Referendum darüber | |
entscheiden, ob die Türkei ihr Beitrittsersuchen zurückzieht.“ Noch in der | |
Wahlnacht am Sonntag hatte Erdoğan zum wiederholten Mal seine Bereitschaft | |
erklärt, ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe sofort zu | |
unterzeichnen. Tatsächlich forderte er das Parlament sogar auf, endlich die | |
Beratungen über die Todesstrafe aufzunehmen, das schulde man den bei dem | |
Putschversuch vom 15. Juli 2016 getöteten Märtyrern. | |
Die Ankündigung weiterer Referenden sind keine vagen politischen | |
Spielereien. Schon lange fühlt sich Erdoğan von Europa bei den | |
Beitrittsverhandlungen brüskiert; jetzt sieht er eine gute Gelegenheit, mit | |
einem Abbruch innenpolitisch punkten zu können. Zudem scheint es nach dem | |
knappen Ausgang des Referendums vom Sonntag und den Fälschungsvorwürfen aus | |
seiner Sicht notwendig, die eigenen Anhänger weiter auf Trab zu halten. | |
Dafür wäre ein Referendum über den EU-Beitritt ein passendes Instrument, | |
zumal die EU die Verhandlungen wohl sowieso auf Eis legen wird. | |
Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe scheint nicht mehr aufzuhalten zu | |
sein – denn einmal bindet Erdoğan damit einen großen Teil des | |
nationalistischen Lagers an sich, zum anderen ist er wohl aus eigener | |
Überzeugung dafür. Immer wieder hat er die Todesstrafe in den vergangenen | |
Monaten ins Gespräch gebracht, für die die Führung seiner Partei für | |
Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zunächst wenig Begeisterung zeigte. | |
## „Transparente Untersuchungen“ | |
Jetzt aber wird die AKP sich nicht mehr um das Thema herumdrücken können. | |
Zwar hat sie selbst gemeinsam mit der ultranationalistischen MHP im | |
Parlament nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine entsprechende | |
Verfassungsänderung – doch für drei Fünftel, die ein Referendum beschließ… | |
können, würde es reichen. | |
Der Europarat erklärte am Dienstag kategorisch, die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe in der Türkei wäre das Aus für deren Mitgliedschaft in der 1949 | |
gegründeten Organisation. Die EU dagegen tut weiter so, als sei die Lage | |
unter Kontrolle. Zwar nannte Margaritis Schinas, Chefsprecher von | |
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Todesstrafe „die dickste | |
aller roten Linien“ für einen Beitritt. Man werde „nicht einmal über die | |
Möglichkeit einer Wiedereinführung diskutieren“. Auf die Frage, ob diese | |
Linie nicht bereits mit der Ankündigung überschritten sei, ging Schinas | |
aber nicht ein. Er ließ auch offen, wie und wann die Gespräche gestoppt | |
werden könnten. Die EU-Regeln sehen vor, dass alle 28 Mitgliedstaaten den | |
Antrag auf Abbruch befürworten müssen. Bisher sprach sich einzig Österreich | |
für einen Stopp aus. | |
Vage äußerte sich die Kommission auch zu dem Vorwurf der Wahlfälschung. | |
Erforderlich seien „transparente Untersuchungen“, so Junckers Sprecher. | |
Berichte über Unregelmäßigkeiten und der knappe Wahlausgang seien ein | |
Grund, bei allen weiteren Schritten einen möglichst breiten | |
gesellschaftlichen Konsens anzustreben. | |
Ähnlich klang das zuvor schon bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. Angesichts | |
der Spaltung der türkischen Gesellschaft erwarte Berlin, dass Ankara „einen | |
respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften | |
sucht“, hieß es am Montag in einer gemeinsamen Erklärung mit Außenminister | |
Sigmar Gabriel. | |
## Hoffnungsschimmer in Brüssel | |
Wenn Erdoğan alle Appelle ungehört verhallen lässt, könnte Brüssel die | |
sogenannten Vorbeitrittshilfen (4,45 Milliarden Euro) kappen. Dafür sprach | |
sich bereits der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf | |
Lambsdorff (FDP), aus. Seitens der Kommission dagegen heißt es bisher, bei | |
den Vorbeitrittshilfen laufe alles nach Plan. | |
Auch die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion gehen weiter, als | |
wäre nichts geschehen. Schon im Dezember hatte die Kommission eine | |
„Modernisierung“ des Abkommens vorgeschlagen, das für die türkische | |
Wirtschaft massive Vorteile birgt. | |
Dieses Angebot stehe unverändert, so Brüssel am Dienstag. Wenn alles gut | |
gehe, könne man auch wieder über die heftig umstrittene Visaliberalisierung | |
sprechen, die Teil des im Jahr 2016 von Merkel eingefädelten | |
Flüchtlingsdeals ist.Allerdings erfüllt die Türkei dafür bis heute nicht | |
alle Bedingungen. Vor allem die drastisch verschärften Anti-Terror-Gesetze | |
erweisen sich als Stolperstein. | |
Damit aber will sich Ankara nicht abfinden. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu | |
erklärte, die Regierung werde nach dem Referendum einen „letzten Vorschlag“ | |
vorlegen. Das wurde in Brüssel als Hoffnungsschimmer gewertet, dass Ankara | |
am Ende doch noch bereit sein könnte, sich zu bewegen. Deshalb sollen die | |
Gespräche weitergehen – zumindest so lange, bis Erdoğan auch hier | |
querschießt. | |
19 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Eric Bonse | |
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