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# taz.de -- Proteste gegen „Ja“-Votum in der Türkei: Das ist nur der Anfang
> Wer nun gegen Erdoğan auf die Straße geht, braucht vor allem eines: Mut.
> Nach den Gezi-Protesten ist die Sorge vor einem blutigen Ausgang
> allgegenwärtig.
Bild: Die Polizei geht gegen Demonstranten in Ankara vor, 16. April 2017
„Nein, wir werden dich nicht zum Präsidenten machen!“ Mit diesem Slogan
zogen auch am Montagabend in diversen türkischen Großstädten wie Ankara,
Istanbul, Antalya und [1][Izmir Hunderte Bürger*innen auf die Straße]. Sie
protestierten singend und auf Töpfe schlagend gegen das zweifelhafte
Ergebnis des Referendums am vergangenen Sonntag. Das ist nicht nur eine
eindeutige Ansage an Recep Tayyip Erdoğan, der mit einer voreiligen
Siegesrede die Einführung des Staatspräsidialsystems verkündete. Das ist
vor allem: mutig.
Denn die Erinnerungen an die gewaltsame Zerschlagung der Gezi-Proteste im
Sommer 2013 sind noch frisch. Und vor allem seit dem Putschversuch im
vergangenen Sommer geht die türkische Regierung massiv gegen Kritiker*innen
vor. Unzählige Journalist*innen und Abgeordnete sitzen in Haft. Aufgrund
des gerade erneut verlängerten Ausnahmezustands können sie dort wochenlang
ohne Kontakt zur Außenwelt einbehalten werden, ohne dass eine Anklage
vorliegt. Wer weiß, ob dieses Schicksal nicht auch die Demonstrant*innen
ereilen wird?
Gleichzeitig haben diese vor allem jungen Menschen, die wir seit zwei Tagen
auf der Straße sehen, nichts mehr zu verlieren. Zehntausende haben ihre
Jobs verloren, die Universitäten entlassen systematisch regierungskritische
Dozenten und Professoren, und nun wird auch noch das Parlament aufgelöst.
Unmut regt sich vor allem, weil durch eine Änderung des Wahlgesetzes kurz
nach Schließung der Wahllokale am Referendumstag Stimmzettel ohne
behördlichen Stempel, also eigentlich ungültige, plötzlich für gültig
erklärt wurden. Manche Wahlbeobachter*innen sprechen von drei bis vier
Prozent manipulierter Stimmen. Bei dem knappen Ergebnis von 51 Prozent für
ein Ja zur Verfassungsänderung wäre die Sache ohne Änderung des
Wahlgesetzes höchstwahrscheinlich anders ausgegangen. Der Vorwurf:
Wahlbetrug.
## Rückhalt aus ungeahnten Ecken
Insofern wird es nicht bei den paar hundert Student*innen auf den Straßen
bleiben, die sich mit diesem Ergebnis nicht abfinden wollen. Sie sind nur
diejenigen, die den Anfang machen. Die Regierungspartei AKP holte sich für
das Referendum Unterstützung von der rechtsextremen Partei MHP, deren
Führung sich ebenfalls offensiv für ein Ja ausgesprochen hatte. Während die
beiden Parteien bei den vergangenen Parlamentswahlen jedoch
zusammengerechnet noch auf 62 Prozent kamen, ist das aktuelle
Referendumsergebnis nach offizieller Darstellung der Regierung elf Prozent
niedriger. Das heißt: Erdoğan verliert in jedem Fall auch massiv an der
eigenen Basis.
Die noch relativ überschaubaren Proteste könnten also noch aus ungeahnten
Ecken Rückhalt bekommen. Am Dienstagmittag etwa trafen sich Hunderte
Bürger*innen vor dem Hohen Wahlamt in Ankara, um ihre schriftlichen
Einsprüche gegen die Änderung des Wahlgesetzes einzureichen. Die Polizei
sperrte den Eingangsbereich ab, um die Menge vom Gebäude fernzuhalten, zu
größerem Einschreiten seitens der Sicherheitskräfte kam es jedoch bislang
auch bei den Abenddemos nicht.
Zugleich hat sich der öffentliche Raum seit den Gezi-Protesten massiv
verändert, und Polizeigewalt ist nicht mehr die einzige Gefahr, der die
Demonstrant*innen mit Mut begegnen. Nach den zahlreichen Terroranschlägen
und Selbstmordattentaten in den vergangenen zwei Jahren ist die Vorsicht
auf der Straßen entsprechend groß geworden. So hoffnungsvoll die
Demonstrationen nun also auch stimmen mögen: Die Sorge vor einem blutigen
Ausgang ist immer da. Leider.
18 Apr 2017
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## AUTOREN
Fatma Aydemir
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