# taz.de -- Debatte Terrorismus und Al-Qaida: Kein Automatismus mehr | |
> Al-Qaida ist über die Jahre zu einem Konglomerat regionaler Gruppen | |
> geworden. Was heißt das für den Anti-Terror-Kampf des Westens? | |
Bild: Bis 2010 gab es regelmäßig Anschläge oder Anschlagsversuche von Al-Qai… | |
Der Krieg gegen al-Qaida hat wieder an Fahrt gewonnen. Vor einigen Tagen | |
teilte das Pentagon mit, ein weiteres hochrangiges Mitglied des | |
Terrornetzwerkes sei vom US-Militär getötet worden. Demnach starb Qari | |
Yasin bei einem Drohnenangriff in Afghanistan nahe der pakistanischen | |
Grenze. | |
Die USA haben seit den Anschlägen vom 11. September zwar nie aufgehört, die | |
Organisation mit militärischen Mitteln zu bekämpfen, in den letzten zwei | |
Jahren lag der Fokus jedoch vor allem auf dem „Islamischen Staat“ (IS). | |
Seit einigen Monaten wird nun auch wieder al-Qaida verstärkt ins Visier | |
genommen, vor allem der jemenitische beziehungsweise syrische Ableger. | |
Die USA tun das aus der Annahme heraus, dass al-Qaida weiter Angriffe auf | |
westliche Ziele plant. Auch nach herrschender Lehre hat sich an der | |
Bedrohung durch die Gruppe nichts geändert. Und in der Tat, die Propaganda | |
von al-Qaida bis hin zu Verlautbarungen der jüngsten Zeit sieht nach wie | |
vor den Kampf gegen den sogenannten Fernen Feind, also die westlichen | |
Länder, vor. | |
Nur – wo bleiben dann die Anschläge? Bis 2010 hat es regelmäßig Anschläge | |
oder Anschlagsversuche gegeben, danach reißt es ab. Al-Qaida wäre | |
allerdings auch heute dazu in der Lage. Eine ihrer Filialen, die syrische | |
Hayat Tahrir al-Scham (HTS) – die frühere Al-Nusra-Front – hat etwa 12.000 | |
Kämpfer, darunter viele aus Europa. Die Konkurrenz vom IS hat es | |
vorgemacht: Es ist ohne Weiteres möglich, Kämpfer aus Syrien nach Europa zu | |
bringen oder Anhänger dort beziehungsweise in den USA zu Anschlägen zu | |
motivieren – wenn man es denn will. | |
## Auf Regionalisierungskurs | |
Die Ex-Nusra will es nach eigenem Bekunden jedenfalls nicht. Sie hat | |
bereits mehrfach erklärt, ausschließlich in Syrien kämpfen und keine | |
Anschläge auf westliche Ziele begehen zu wollen. Dass sie sich im letzten | |
Sommer von al-Qaida losgesagt beziehungsweise kürzlich mit weiteren | |
syrischen Milizen zur HTS vereinigt hat, unterstreicht diese | |
Regionalisierung. Vorrangiges Ziel ist die Gründung eines Gottesstaates in | |
Syrien. Ähnliche Erklärungen seitens des jemenitischen Al-Qaida-Ablegers | |
gibt es zwar nicht, in der Sache ist jedoch die gleiche Entwicklung zu | |
beobachten. | |
Auch diese Gruppe konzentriert sich nicht mehr auf den Kampf gegen den | |
Westen, sondern darauf, im Jemen ein Herrschaftsgebiet zu erobern und zu | |
halten, in dem sie ihre Interpretation des Islams durchsetzt. Genau wie die | |
Kollegen in Syrien ist sie dabei bemüht, lokale Bündnisse zu schmieden und | |
in Regionen unter ihrer Kontrolle elementare staatliche Leistungen | |
bereitzustellen, um so von der Bevölkerung anerkannt zu werden. | |
Berücksichtigt man jetzt noch, dass die somalische Schabab sowie al-Qaida | |
im Maghreb zwar zweifellos Terror ausüben, aber ebenfalls nur regional | |
agieren, drängt sich die Frage auf, ob die Programmatik des Kampfes gegen | |
den Fernen Feind faktisch überhaupt noch aktuell ist. Ist al-Qaida über die | |
Jahre nicht zu einem Konglomerat von Gruppen mutiert, die jeweils nur eine | |
regionale Agenda verfolgen, nämlich die Errichtung von Emiraten, | |
Herrschaftsräumen, in denen auf Basis der Scharia regiert wird? | |
## Charlie Hebdo | |
Ein Anschlag durchbricht dieses Muster: der Angriff auf die Pariser | |
Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015. Einer der Täter hat im Jahr | |
2011 im Jemen eine Ausbildung erhalten. Im Jahr 2013 hat al-Qaida zudem | |
eine Liste von Anschlagszielen veröffentlicht, in der auch die Redaktion | |
von Charlie Hebdo genannt wurde. Vor allem aber hat sich der jemenitische | |
Arm nachträglich zu dem Anschlag bekannt. | |
Einige Details trüben andererseits das Bild, etwa die seltsam lange Zeit | |
zwischen Ausbildung und Anschlag. Vor allem jedoch scheint es, dass die | |
treibende Kraft hinter dem Angriff eine ganz andere Person war: Amedy | |
Coulibaly, der Mann, der zwei Tage später in Paris einen jüdischen | |
Supermarkt überfiel. Er hat die Waffen für den Anschlag auf Charlie Hebdo | |
besorgt und hielt während der Ereignisse engen Kontakt zu den Attentätern. | |
Coulibaly wiederum hat nicht al-Qaida, sondern dem IS die Treue geschworen. | |
Es lässt sich zumindest spekulieren, dass Coulibaly und die | |
Charlie-Hebdo-Attentäter, die sich seit Jahren kannten, auf eigene Faust | |
beschlossen haben, die Anschläge zu begehen, und Letztere vor dem | |
Hintergrund ihrer alten Verbindung sich als Kämpfer der al-Qaida | |
präsentiert haben. Al-Qaida wiederum hat sich aus demselben Grund | |
beziehungsweise der Tatsache, dass sie zwei Jahre zuvor die Redaktion von | |
Charlie Hebdoausdrücklich zum Ziel deklariert hatte, zu dem Anschlag | |
bekannt, ohne jedoch im Vorfeld einen konkreten Auftrag gegeben zu haben. | |
Egal wie man den Anschlag auf Charlie Hebdo einordnet – festzuhalten ist, | |
dass al-Qaida einen Kurs der Regionalisierung eingeschlagen hat. Die | |
Wiederaufnahme des Kampfes gegen den Fernen Feind würde diesen Kurs | |
gefährden und wäre den lokalen Partnern auch nicht vermittelbar. | |
## Durch zivile Opfer entsteht Hass | |
Hierdurch stellt sich eine interessante Frage. Wenn al-Qaida sich nicht | |
mehr für den Westen interessiert, warum sollte sich der Westen noch für | |
al-Qaida interessieren? Ist es insbesondere noch zweckmäßig, im Wochentakt | |
hochrangiges Al-Qaida-Personal zu töten – wobei dann auch zufällig | |
anwesende Zivilisten zu Tode kommen? Könnte man al-Qaida nicht behandeln | |
wie etwa die libanesische Miliz Hisbollah, die zwar als Terrorgruppe | |
geführt wird, aber weitgehend unbehelligt bleibt, solange sie nur in der | |
Region agiert? | |
Die Antwort, ganz gleich, wie sie ausfällt, ist eine Art Wette auf das | |
künftige Verhalten der Gruppe – eine Wette, die man natürlich auch | |
verlieren kann. Dabei wäre es ein Irrtum zu glauben, mit der fortgesetzten | |
militärischen Bekämpfung ginge man sozusagen auf Nummer sicher. Zum einen | |
provozieren die dauernden Angriffe irgendwann möglicherweise genau das, was | |
sie eigentlich verhindern sollen, nämlich Anschläge auf westliche Ziele. | |
Zum anderen entsteht durch die regelmäßigen zivilen Opfer Hass, und Hass | |
gebiert neue Gewalt. Die Terrorismusbekämpfung mit militärischen Mitteln | |
ist vor allem in den USA zu einem Automatismus geworden. Im Falle von | |
al-Qaida wird es Zeit, diesen Automatismus zu überdenken. | |
2 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulf Brüggemann | |
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