# taz.de -- Die Wahrheit: Beim Ausmisten der Aufkleber | |
> Was passiert, wenn ein Umzug bevorsteht und einiges aussortiert werden | |
> soll? Der Sammler entdeckt die Schätze seiner Kindheit wieder… | |
Bild: Irgendwo in Israel brennt zu Chanukka ein Licht | |
Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ziehe ich um. Und dazu gehört es, | |
auszumisten. Meine Freundin behauptet, ich sei ein Messi – was übertrieben | |
ist. Aber ich gebe zu: Es fällt mir schwer, mich von Dingen zu trennen, an | |
denen mein Herz mal hing. | |
Da sind meine Kicker-Sonderhefte zu den Fußballweltmeisterschaften, meine | |
Stapel mit Zeitungsartikeln und meine Sammlung von Musikkassetten. Was habe | |
ich diese Europa-Kassetten geliebt! Von den Fußballer-Autogrammkarten der | |
frühen achtziger Jahre habe ich meiner Freundin noch gar nichts erzählt. | |
Ich nehme mir meine Aufkleber-Sammlung vor, die ich als Kind in mühevoller | |
Kleinarbeit angelegt habe. Es sind mehrere Hundert Sticker, die ich nicht | |
wie üblich auf Möbel und Türen klebte, sondern ordentlich in einer | |
Schublade hortete. Die letzten zwanzig Jahre haben sie in einem Karton im | |
Keller überdauert; nun schütte ich sie auf dem Teppich aus, sie erscheinen | |
mir wunderschön und geradezu lebenswichtig. Mit jedem Aufkleber, den ich in | |
die Hand nehme, ist es, als würde ich eine Madeleine in einen Tee tunken. | |
Da sind die aus den Micky-Maus-Heften mit lustigen Sprüchen, da sind die | |
Werbeaufkleber, die ich auf Funkausstellung und Grüner Woche ergatterte. Da | |
sind die Autoaufkleber mit Fußball-Wappen, die es als Trostpreis auf dem | |
Rummel gab; da sind jene, die ich mir in einem Klimbim-Laden namens | |
Klinkert kaufte, in den ich als Grundschüler mein Taschengeld trug: ein | |
Gerippe mit dem Slogan „Rauchen macht schlank“; ein Autoaufkleber mit der | |
Aufschrift: „Überholen sie ruhig, ich kaufe ihren Schrott auf!“ Es kann | |
kein Zufall sein, dass die Klinkerts pleitegingen, nachdem ich in die | |
Pubertät kam. | |
„Was machst du da? Bist du verrückt geworden?“, fragt meine Freundin. Auf | |
dem Teppich haben sich kleine Stapel gebildet. „Ich sortier sie nach | |
Themen“, antworte ich. | |
Da sind die politischen Sticker: „Atomkraft todsicher“, „Sonne statt | |
Reagan“, „Stell Dir vor, es ist Krieg – und nur Kohl geht hin“, die | |
Weissagung der Cree darf nicht fehlen. Ein Aufkleber der SPD mit dem | |
Konterfei Hans-Jochen Vogels: „Mit nem Vogel lebt sich’s besser“; einer d… | |
CDU: „Wir lassen uns nicht ‚verapeln‘ “. | |
Ein Stapel bildet so etwas wie eine Chronik des untergegangenen Westberlin: | |
Werbeaufkleber des Berliner Luft- und Badeparadies „Blub“, das mittlerweile | |
abgebrannt ist, der Mitfahrzentrale am Zoo sowie des Blue Moon, in dem wir | |
später Docs und Bomberjacken kauften. | |
Ich nehme einen Sticker der Alternativen Liste in die Hand, den ich 1985 | |
auf ihrer Wahlparty im Metropol kaufte: Ich war vierzehn, auf der Bühne | |
sang George Kranz seinen Welthit „Din Daa Daa“, und die AL zog mit 10,6 | |
Prozent ins Abgeordnetenhaus ein: „Gegen die Arroganz der Mächtigen!“ | |
Ich packe die Aufkleber in den Karton zurück, zusammen mit dem | |
Kicker-Sonderheft der WM 1982 und den Europa-Kassetten. „Und, was machst du | |
damit?“, fragt meine Freundin. „Na, aufheben“, sage ich. Für einen Abend… | |
Altersheim. | |
28 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Philip Meinhold | |
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