# taz.de -- Anke Stellings neuer Roman: Sie benutzen einander als Knetmasse | |
> In ihrem Roman „Fürsorge“ geht Anke Stelling an die Grenzen dessen, was | |
> man als Leser verkraften kann. Ihre Protagonisten sind monströs. | |
Bild: Anke Stelling hat ein herausforderndes, teils schwer zu verkraftendes Buc… | |
Es scheint, als sei die Berliner Autorin Anke Stelling in der Rolle der | |
notorischen Nestbeschmutzerin so richtig angekommen. In der Rolle jener | |
Person also, die Informationen aus dem intimen Zusammenhang der, sagen wir | |
mal, modernen, urbanen Mütterlichkeit an die Öffentlichkeit bringt. Es ging | |
mit ihrem „Bodentiefe Fenster“ los, ihrem ersten Buch nach dem Wechsel vom | |
großen Fischer zum kleinen Verbrecher Verlag – einem Schritt, mit dem sich | |
Stelling, wie sie selbst sagt, frei schwimmen konnte, um das zu schreiben, | |
was sie wirklich wollte. | |
„Bodentiefe Fenster“ war ein finsteres Buch über eine Baugruppe in | |
Prenzlauer Berg, in der jede jeden hasst und alle vergeblich nach den | |
Idealen von Gleichheit und Schwesterlichkeit streben, für die ihre Mütter | |
einmal aufgebrochen sind. Nun geht es weiter, mit „Fürsorge“, einem | |
kleineren, schnelleren, aber noch viel gemeineren Buch – einem Buch, das | |
weitergeht als alle Debattenbeiträge, die sich am Phänomen „Regretting | |
Motherhood“ gerieben haben, also jenen Rabenmüttern, die das derzeitige | |
Ideal der euphorischen Elternschaft in die Tonne treten und von sich sagen, | |
sie hätten es mal lieber sein lassen sollen. | |
Die Geschichte von „Fürsorge“ ist schnell erzählt. Es geht um eine | |
Berufstänzerin, die ihren Sohn als Teenager bekommen und sofort an die | |
Mutter weitergereicht hat, um diszipliniert ihre Ballettkarriere anzugehen: | |
„Dreh dich, Mädchen, dreh dich!“ | |
15 Jahre später ist sie Mitte dreißig. Die Karriere beendet, die Knochen | |
ruiniert, und mit dem heroinabhängigen Freund tut sich auch nicht mehr sehr | |
viel. Also meldet sich Nadja, die bis dahin nur als Telefonstimme im Leben | |
ihres Sohns präsent war, zurück in der heruntergekommenen Leipziger | |
Vorstadt, in der die Mutter erst sie, dann den Enkel großgezogen hat. | |
Statt zu versuchen, einen freundschaftlichen Draht zum verlorenen Sohn | |
aufzubauen, verwickelt Nadja Sohn Mario in eine heftige Liebesaffäre, von | |
der keiner um die beiden herum etwas wissen zu wollen scheint. Die | |
Fürsorge, die Anke Stelling da beschreibt, meint eigentlich das Gegenteil | |
von Fürsorge, wie sie uns besonders, wenn wir erziehungsberechtigt sind, | |
zur Gewohnheit geworden scheint. Sie meint einzig und allein die Sorge um | |
sich selbst, von der sowohl Nadja als auch ihr Sohn Mario, der Bodybuilder | |
ist, besessen sind. | |
## Mit peinlicher Akribie | |
Mutter und Sohn betrachten ihren Körper als Kapital. Sie erfüllen den | |
daraus resultierenden Auftrag zur Pflege und Ausbeutung dieses Kapitals mit | |
peinlicher Akribie und eifrigem Pflichtbewusstsein. In der Beschreibung | |
dieser Zielstrebigkeit – und ihrer Konsequenzen – geht Stelling an manchen | |
Stellen an die Grenzen dessen, was man als Leser ertragen kann. | |
Während „Nadja isst, wie andere Menschen Autos betanken“, nimmt Mario | |
ausschließlich synthetische Eiweißprodukte zu sich. Während sich Nadja in | |
der Apotheke „mit diversen Pillen-, Pflaster- und Scheidenzäpfchenproben | |
versorgt“, weil sie karrierebedingt stets so dürr war, dass ihre Menopause | |
bereits eingesetzt hat, gewinnt Mario Wetten, weil er schwere Gewichte | |
nicht nur mit den Armen, sondern auch mit dem erigierten Penis stemmen | |
kann. | |
Das alles kommt derart staubtrocken zur Sprache, als ginge es hier nicht um | |
die Beschreibung dysfunktionaler menschlicher Körper, sondern um die | |
Montageanleitung einer Textilgarderobe vom schwedischen Möbelhaus. An | |
keiner Stelle wird etwas über die Motivation dieser Menschen gesagt. Auch, | |
dass die beiden aus einem Teil der Gesellschaft kommen, der landläufig als | |
abgehängt gilt, soll ausdrücklich nicht im Vordergrund stehen – immerhin | |
ist Nadja Sozialaufsteigerin par excellence. Man ist also auf einiges | |
gefasst, als es zwischen Mutter und Sohn zu dem kommt, was im Klappentext | |
des Buchs bereits angekündigt ist. | |
## Sie benutzen einander | |
Und trotzdem wirft sie die Leserin brutal aus der Bahn: Die Affäre zwischen | |
Nadja und Mario ist mit dem Wort ödipal nicht hinreichend beschrieben. Sie | |
geht über die „Regretting Motherhood“-Debatte hinaus, denn hier geht es | |
nicht nur um verkorkste Beziehungen, hier geht es auch um restlosen | |
Selbstverlust. Nadja ist ein Monster, ihr Sohn aber auch. Beide benutzen | |
einander als Knetmasse und als Spiegel, der allerdings nur gähnende Leere | |
zurückwirft. | |
Anke Stelling hat ein Buch geschrieben, das vor allem eines kann: Es bricht | |
mit lieb gewordenen Gewohnheiten. Dieser Autorin geht nicht darum, | |
anzuklagen, sondern zu fragen: Warum wird die Kleinfamilie wieder zur | |
einzig vernünftigen Form des menschlichen Zusammenlebens überhöht? Und | |
warum misslingt es auch dermaßen radikal, außerhalb der Kleinfamilie ein | |
gutes Leben zu finden? | |
In diesem Roman jedenfalls findet Anke Stelling keinen Ort, an dem Menschen | |
glücklich sein könnten. | |
24 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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Regretting Motherhood | |
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