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# taz.de -- Buch über desillusionierte Menschen: Zum Glück gibt es Kaffee
> Spätestens seit ihrem Roman „Schäfchen im Trockenen“ ist Anke Stelling
> ein Literaturstar. Nun sind Erzählungen der Autorin herausgekommen.
Bild: Der Kaffee als kleine Realitätsflucht – wenigstens für kurze Zeit
Als die 1971 in Ulm geborene Schriftstellerin Anke Stelling mit ihrem
siebten Roman, [1][„Schäfchen im Trockenen“,] im vergangenen Jahr den Preis
der Leipziger Buchmesse gewann, lobte die Jury den „scharfkantigen“ Tonfall
einer Abstiegsgeschichte, die „wehtun will und wehtun muss“, die
„protestiert gegen den beständigen Versuch des Besänftigtwerdens“.
Romanheldin Resi hat dem Glücksversprechen ihres so hippen wie
kaltschnäuzigen Milieus getraut und muss nun ansehen, wie manche Freunde
das Eigenheim im Berliner Speckgürtel anpeilen, während sie selbst nicht
länger in Prenzlauer Berg wohnen kann, weil die Mieten im Lieblingskiez
nicht mehr zu bezahlen sind.
Vielleicht gibt es Schlimmeres, als nach Ahrensfelde ziehen zu müssen, aber
die Autorin zeichnet in dem Roman durchaus plausibel nach, wie ökonomische
Verhältnisse nicht nur Lebenswege, sondern auch das Erzählen verändern.
Denn Resi muss den Wegzug ihrer 14-jährigen Tochter Bea erklären, womit
sich der Text zu einer politischen Wutrede entwickelt.
In zahlreichen Besprechungen wurde die „soziologische Genauigkeit“ des
Buchs gefeiert, was schon bald eine kleine Debatte entfachte, denn Iris
Radisch konnte in dem Text nur „Vulgärsoziologisches“ erkennen. Vor allem
aber bemängelte die Literaturkritikerin der Zeit, dass ein [2][„literarisch
unbedarftes Werk“] ausgezeichnet wurde, „weil es so tapfer und sozial
engagiert ist“. Die „antiliterarische Maxime“ der Figurenrede könne der
„Bitterfelder Weg der Prenzlauer-Berg-Mütter“ genannt werden.
Mal abgesehen von der Polemik, die vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre,
stellt Radisch eine wichtige Frage bezüglich der literarischen Mittel, die
erstaunlicherweise immer häufiger aus dem Blick gerät, wenn die politischen
Inhalte im Mittelpunkt der Bewertung stehen. Dabei stehen Inhalt und Form
immer in einem Wechselverhältnis, und auch in Stellings Erzählband
„Grundlagenforschung“ verrät vor allem die Sprache sehr viel über die Art
und Weise, wie die Autorin die Welt wahrnimmt.
Direkte Ansprache und Anklage, Momente emphatischer Mündlichkeit, gehören
jedenfalls zu wichtigen stilistischen Mitteln in Stellings Kurzprosa. Viele
Geschichten wirken, als seien sie zum Vorlesen geschrieben worden. Die
Erzählebenen und Motive sind überschaubar, die Figurenzeichnungen so
plakativ, dass leicht Komik entsteht. Auf der Lesebühne kommt es auf die
Pointendichte an, und die ist in den gesammelten Erzählungen beträchtlich.
Im Grunde ist schon der Buchtitel ein Witz. „Grundlagenforschung“ betreiben
die Storys gerade nicht, sie sind weder soziologisch noch
vulgärwissenschaftlich, sie sprechen das Publikum eher wie im
locker-flockigen formulierten Intro eines Lifestyle-Magazins an: „Nehmen
wir das Leben und teilen es in drei Bereiche: Liebe, Arbeit, Essen &
Trinken. Wobei Essen & Trinken auch Trinken & Rauchen heißen könnte, Arbeit
auch Kunst und Liebe vielleicht Freizeitvergnügen. Irgendwelche Einwände?“
Selbstverständlich sind diese Zeilen der Eröffnungsgeschichte auch ironisch
gemeint, jedenfalls ein wenig, oder eben nicht, denn das Leben von Heiner
und Claudia spielt sich in bekannten alternativ-bürgerlichen Grundmustern
ab, was vor allem für Claudia ernüchternd ist. „Das Feld ist abgesteckt, im
Text wie im Leben“, heißt es an einer Stelle, und zum Schluss geht Claudia
mit ihrer Hebamme ins Bett, weil Heiner ständig unterwegs ist.
Zwischendurch gibt es viel Hausarbeit, und in der Spüle liegt noch ein
wenig welker Feldsalat. Das Leben der beiden ist auf wenigen Seiten
auserzählt, was auf formaler Ebene den Stoff gekonnt widerspiegelt, und
damit kann es zur nächsten Geschichte gehen: „Wenn du willst, kannst du
weiterblättern.“
## Die Desillusionierung der Traurigen
Zur eigenwilligen Lakonie dieser Prosa gehört, dass die Autorin zum Auftakt
fast jeder Erzählung die Desillusionierung der traurigen Figuren vorneweg
in kurzen Sätzen umreißt, um die enttäuschten Sehnsüchte dann in knappen
Szenen und Schilderungen auszuführen: „Was inzwischen alles kaputt ist“,
beginnt ein Stück, in dem zunächst aufgezählt wird, dass in dem
beschriebenen Haushalt unter anderem Fernseher, Waschmaschine, Backofen und
Computer nicht mehr funktionieren, genauso wenig wie die
zwischenmenschlichen Beziehungen.
In der folgenden Erzählung mit dem Titel „Glückliche Fügung“ lautet der
erste Satz: „Nach und nach ging alles zu Ende.“ In einer anderen Geschichte
lesen wir im zweiten Absatz: „Vielleicht war auch alles ein Irrtum.“
Solche Wiederholungen sollten nicht erstaunen, denn auch die Figuren
tauchen in unterschiedlichen Erzählungen auf, wie etwa die enttäuschte
Claudia, die in „Ranunkeln“ am Ende des Bandes noch einmal ihre
sinnstiftenden Parallelen ziehen darf: „Niemand wusste, wo oben und unten
war, und trotzdem ging’s irgendwie weiter. Im Text zumindest. Und im
Leben.“
Leider werden Stellings Figuren, die sich zumeist im mittleren Alter
befinden, auch in den Wiederholungsschleifen nicht vielschichtiger, werden
die Konflikte nicht existenzieller, die Gespräche nicht tiefgründiger.
Jenseits des Gesagten und Beschriebenen entsteht in dieser Literatur selten
ein poetischer Raum, in dem noch einmal alles in Frage gestellt werden
kann.
## Skurrile Trauerfeierlichkeiten
Nicht mal die Beerdigung eines Freundes bietet Anlass, sich von der
wohlsituierten Oberflächlichkeit der Charaktere zu lösen, und insofern darf
die Erzählerin die bedrückende Atmosphäre wieder mit einem Witz auflösen:
„Also haben wir plötzlich keine Lust mehr. Keine Lust zu denken, keine
Lust, uns zu erinnern.
Eine Alternative ist uns bislang nicht eingefallen. Bowling vielleicht?“
Die Skurrilität und Absurdität von Trauerfeierlichkeiten ist in diesen
Sätzen gar nicht mal so schlecht eingefangen, dennoch bleibt der Eindruck,
dass die Geschichte aufhört, wo es hätte interessant werden können.
Der Vorwurf, auf halber Strecke stehenzubleiben, ist auch dem literarischen
Programm insgesamt zu machen. Stelling bleibt sowohl thematisch als auch
sprachlich in ihrer sarkastisch vermessenen Wohlfühlzone. Kurze Sätze, sich
ähnelnde Dialogfetzen, eine in ihrer Ruppigkeit eben doch sehr uniforme
Sprache prägen die Texte. Das ist schade, denn Stelling könnte die
Widersprüche und Lebenslügen ihrer Protagonisten auf die Spitze treiben,
aber Eskalationen bleiben weitgehend aus, als ob die matte
Mittelstandsideologie der Figuren auf die Dramaturgie übertragen werden
solle.
Man könnte auch sagen, die Autorin ist sich ihrem ästhetischen Minimalismus
treu geblieben, denn in „Grundlagenforschung“ sind neue und bereits
veröffentlichte Texte aus den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlicht
worden. Stellings Protagonisten sind im Laufe der Zeit älter geworden, aber
verändert haben sie sich kaum, so wenig wie die literarische Perspektive
der Autorin auf die verwirrenden Verhältnisse. Insofern schwindet bei
fortschreitender Lektüre die humoristische Fallhöhe, weil irgendwann auch
eine noch so skurrile Pointe nicht mehr überrascht.
## Bluterguss und Hypochonder
Wenn Christian als ein Typ vorgestellt wird, der die Verletzungen seiner
Frau nicht erträgt und nicht mal einen Bluterguss auf Gundas Hand ansehen
mag, wenn dieser Hypochonder auch die durch Parodontose freigelegten
Zahnhälse von Freunden mit einem Ekelschauer beobachtet, dann ist die
Erkenntnis, dass dieser Mann selbst in trauter Zweisamkeit ein sehr
einsames Dasein fristet, eben nicht sehr originell: „Jeder schläft und
träumt für sich, um morgens die Augen aufzuschlagen und nachzusehen, ob der
andere noch da ist.“ Woraufhin die Pointe dieses Mal lautet: „Zum Glück
gibt es Kaffee.“
Die etwas eindimensionale Anlage banalisiert leider auch die
gesellschaftskritischen Botschaften der Erzählungen. Um die haarsträubende
Widersprüchlichkeit der Welt angemessen zu erzählen, bedarf es etwas mehr
als eines Stils, der in seiner ausgestellten Unterhaltsamkeit unterm Strich
eine Klarheit der Verhältnisse vorgaukelt.
Vielleicht sollten Stellings Geschichten nicht in einem Rutsch gelesen
werden. Eher zwischendurch, mit etwas Abstand, wenn die Erinnerung an
bereits gelesene Beiträge wieder verblasst ist. Dann wirken sie wie Kaffee,
der kurz mal wach macht, dessen Wirkung aber schon bald nachlässt.
24 Nov 2020
## LINKS
[1] /Preis-der-Leipziger-Buchmesse/!5582507
[2] https://www.zeit.de/2019/14/schaefchen-im-trockenen-leipziger-buchmesse-buc…
## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
Literatur
Sozialer Abstieg
Erzählungen
Literatur
Lesestück Recherche und Reportage
Regretting Motherhood
Baugruppen
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