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# taz.de -- Zum Tod von Gabriel García Márquez: Literatur als fiktiver Trost
> Revolutionen, Imperialismus, Leidenschaft: Die Romane Márquez' sind
> geprägt von den großen Narrativen Lateinamerikas – und noch viel mehr.
Bild: Seine Romane leben vom Scheitern seiner Figuren: Gabriel García Márquez.
Es sind schwere Zeichen, die einen aus seinen Romanen entgegenspringen.
Einsamkeit. Liebe. Auch Schicksal. Wer sich 1982, als Gabriel García
Márquez den Nobelpreis bekam, daranmachte, sich einen Überblick über den
Weltliteratur zu verschaffen, der hatte einiges nachzuholen. William
Faulkner und Virginia Woolf etwa – Autoren, deren moderne Erzähltechniken
Márquez und sein nicht schlicht chronologisches, sondern durch viele
Zeitsprünge strukturiertes Erzählen stark beeinflussten. Und der hatte 1982
mit einer skrupulösen, bewusstseinsorientierten Literatur zu tun, deren
Stimme oft durch Selbstzweifel geprägt war. An den deutschen Universitäten
kam man noch mit Adornos Sichtweise ganz gut durch, nach der Samuel
Becketts Endspiele und reduzierte Menschen das Maß aller Dinge waren.
Und dann las man in „Hundert Jahre Einsamkeit“ Sätze wie diese: „Der Herr
Oberst Aureliano Buendía zettelte zweiunddreißig bewaffnete Aufstände an
und verlor sie allesamt. Er hatte von siebzehn verschiedenen Frauen
siebzehn Söhne, die einer nach dem anderen in einer einzigen Nacht
ausgerottet wurden, bevor ...“ – und so kraftvoll, sinnlichkeitsgesättigt,
durchaus auch machistisch, vor allem aber nah dran am mythischen Erzählen
geht diese Szene noch lange weiter (mein Exemplar dieses Romans stammt aus
dem Jahr 1982 und ging, als ich es nach der Nachricht vom Tod dieses
Weltautors aus dem Regal nahm, von selbst auf Seite 126 auf, auf der diese
Sätze stehen).
Südamerika und seine Narrative von gescheiterten Revolutionen und
US-amerikanischem Imperialismus, von unterdrückter Leidenschaft und
übermächtiger Natur sind die eine Quelle von Márquez' Schaffen. Wer den
überwältigenden Welterfolg dieses Autors erklären will, sollte aber vor
allem auch solche literarischen Bezüge sehen. In einer heute noch lesbaren
Kritik des Romans hat der US-Autor Jack Richardson 1970 in der New York
Review of Books geschrieben, dass Marquez' Erzählkunst „eher einem Traum
von der Fähigkeit der Kunst folgt als einer Sammlung von sozialen und
historischen Wahrheiten“.
Das ist ein wichtiger Punkt. Márquez' Romane leben vom Scheitern seiner
Figuren – da treffen sich Beckett und Márquez: das heillose Warten als
Grundsituation des Menschen –, aber auch davon, dass die Literatur die
Fähigkeit hat, dieses Scheitern gültig auszudrücken und in Metaphern,
Bilder und Geschichten zu fassen. Wenn man so will, ein Sieg der
Erfindungskraft über die alltäglichen Umstände des Lebens.
## Cholera und Kohl-Ära
Schon die Titel seiner Romane sind in dieser Gemengelage überlebensgroße
Symbole für diesen Traum von der weltenstiftenden Kraft der Literatur.
„Hundert Jahre Einsamkeit“, „Chronik eines angekündigten Todes“, „Der
Oberst hat niemand, der ihm schreibt“, „Liebe in den Zeiten der Cholera“.
Bevor es etwas stiller um Márquez wurde, waren solche Titel so präsent,
dass in den Neunzigern im Film „Das Leben ist eine Baustelle“ ein an einen
Bauzaun gemaltes Graffito mit dem Satz „Die Liebe in den Zeiten der
Kohl-Ära“ ganze Kinosäle zum Lachen brachte. Die Verbindung zu Marquez
verstand wirklich jeder.
Man kann die Titel aber auch als Symbole für die kindliche Urerfahrung der
allumfassenden Einsamkeit lesen, mit der sich Gabriel García Márquez – 1927
als erstes von elf Kindern in der tiefsten Verlassenheit des
kolumbianischen Hinterlandes geboren – nicht abfinden wollte und die ihn
dazu brachte, seinen Geburtsort mit dem fiktiven Ort Macondo, in dem
„Hundert Jahre Einsamkeit“ spielt, als Mittelpunkt der Welt neu zu
erfinden. Neben den magischen Erzählkünsten stehend, sind solche
Verlassenheitserfahrungen vielleicht das Realistische an seinem magischen
Realismus.
Im selben Jahr 1967, als „Hundert Jahre Einsamkeit“ erschien, wurde Che
Guevara im bolivianischen Dschungel erschossen. Man sollte dieses
Zusammentreffen – eine der Urszenen der zweiten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts – nicht so eng verstehen, dass nach dem Scheitern aller
Revolutionshoffnungen nur noch die Literatur mit einem fiktiven Trost durch
phantasiereich ausgemalte epische Muster übrigbleibt. Wie dann? Vielleicht
ja auch dahin, dass die Menschen auch andere Mittel haben, für ihre
Anerkennung zu kämpfen, als bloße Waffengewalt. Romane, soviel Pathos muss
nach dem Tod dieses Autors schon sein, gehören dazu.
18 Apr 2014
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Gabriel García Márquez
Schriftsteller
Kolumbien
Regretting Motherhood
Gabriel García Márquez
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