# taz.de -- Kandidatenkür bei der Berliner CDU: Die Einheitsfront im Westen | |
> 600 CDU-Mitglieder entscheiden über ihren Direktkandidaten. Nach vielen | |
> Stunden steht fest: Es gibt keinen Sieger, sondern ein Patt. Wie konnte | |
> das passieren? | |
Bild: Will in den Bundestag: Ex-Justizsenator Thomas Heilmann | |
„Demokratie ist echt Arbeit.“ Es ist ein Stoßseufzer, den die CDU-Frau aus | |
Zehlendorf von sich gibt. Die Mittvierzigerin gehört zu den Hunderten, die | |
sich am Mittwochabend in einer langen Schlange Richtung Wahlurne bewegen. | |
Schon seit 19 Uhr hält sie sich in dieser Schul-Aula auf, inzwischen ist es | |
fast 22.30 Uhr; und sie würde noch ganz anders klingen, wenn sie wüsste, | |
dass sie auch noch die nächsten Stunden hier verbringen wird. | |
Berlins Christdemokraten versuchen sich an einer Premiere: Erstmals sollen | |
nicht Delegierte der einzelnen Ortsverbände jenen Menschen wählen, der am | |
24. September als CDU-Bundestagskandidat auf dem Stimmzettel in | |
Steglitz-Zehlendorf steht – nein, alle können mitbestimmen. Alle, das sind | |
theoretisch 2.300 Mitglieder im größten Berliner CDU-Kreisverband; und | |
praktisch immer noch rund 600, die zu diesem Ereignis in die | |
John-F.-Kennedy-Schule gekommen sind. | |
Es entwickelt sich ein skurriler Abend in der ansonsten so | |
durchorganisierten CDU, in der Überraschungen bei Parteitagen die Ausnahme | |
sind – die letzte gab es 2008, als die Delegierten Friedbert Pflüger als | |
Kandidaten für die Europawahl ablehnten, gegen den Willen von | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel. | |
Am Mittwochabend haben sich die 600 CDUler eingestellt auf das Duell | |
zwischen ihrem bisherigen Bundestagsabgeordneten Karl-Georg Wellmann und | |
ihrem Kreisvorsitzenden und Ex-Justizsenator Thomas Heilmann. Doch bei der | |
Ankunft finden sie die Bewerbungszettel einer dritten Kandidatin vor: | |
Katharina von Falkenhayn, eine 45-jährige Referentin der | |
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, will im Parlament künftig nicht mehr nur | |
zuliefern. „Die hat doch einer vorgeschickt“, ist später in Zwiegesprächen | |
zu hören. | |
## Noch eine Kandidatin! | |
Einer, das wäre laut dieser Mutmaßung Wellmann. Das Ziel: die Gruppe derer | |
zu spalten, die ihn nicht wollen. Also so eine Art Ralph-Nader-Phänomen: Im | |
US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 hatte der Grüne Nader mit seinen paar | |
Prozent den Demokraten Al Gore um die entscheidenden Stimmen gegen Bush | |
gebracht. In der John-F.-Kennedy-Schule aber passt die Verschwörungstheorie | |
nicht: Zum Wahlsieg braucht es nach dem vereinbarten Procedere auch bei | |
drei Bewerbern eine absolute Mehrheit oder eine Stichwahl mit den beiden | |
Erstplatzierten. | |
Um 19 Uhr ist offiziell Beginn des Wettstreits. Ein paar Regularien noch, | |
dann sind die Kandidaten dran. Karl-Georg Wellmann redet mit gewohnt | |
sonorer Stimme, ruhig im Auftreten. Er attackiert Heilmann nicht direkt, | |
setzt aber ein paar Spitzen in Richtung der aus CDU-Sicht verlorenen | |
Abgeordnetenhauswahl vom vergangenen September – Heilmann hatte dafür die | |
Kampagne organisiert. | |
Heilmann wiederum verzichtet auf solche Angriffe. Er, der so witzig reden | |
kann und im Abgeordnetenhaus mit spontanen Antworten manchen Lacher | |
provozierte, liest ab und wirkt, als ob er sich bewusst zurücknimmt. Vor | |
Jahren hat er mal erzählt, er würde Krawatten nur tragen, wenn es der | |
Respekt vor der Verfassung und ihren Organen gebiete, also vor Gericht oder | |
als Senator im Parlament. | |
An diesem Abend aber hat er offenbar abgewogen, wie viele Stimmen ihn ein | |
offener Kragen beim älteren oder konservativeren Publikum kosten würde – | |
und zu einem weißen Modell mit dünnen bunten Streifen gegriffen. Während | |
die Kandidaten, zumindest eingangs, zurückhaltend miteinander umgehen, | |
fällt dies mehreren Wellmann-Anhänger am Mikrofon schwer: Sie kreiden | |
Heilmann die Wahlkampagne an; sie kritisieren ihn, weil er es nicht | |
geschafft hat, seinen Steglitzer Wahlkreis zu gewinnen. | |
Die dortige Ortsverbandsstruktur habe er zerstört, sich nicht blicken | |
lassen, ist zu hören. Die Wahl auf allen Ebenen habe er vergeigt, sei aber | |
anders als der zurückgetretene CDU-Landeschef Frank Henkel weiter | |
Kreisvorsitzender geblieben. Und nun noch in den Bundestag wollen? – „Das | |
verstehe ich nicht“, meint einer. Ein anderer formuliert es deutlich | |
schärfer: „Der Bundestag ist kein Auffangbecken für gescheiterte | |
Regionalpolitiker.“ | |
Wellmann selbst packt noch den Vorwurf obendrauf, dass Heilmann seit drei | |
Jahren keine Mitgliedsbeiträge gezahlt habe. Der ist sich keiner Schuld | |
bewusst; als Journalisten ihn danach fragen, will er keine Mahnung erhalten | |
haben. Rund 25 Beiträge kommen aus dem Publikum. Das ist eine Beteiligung, | |
wie man sie von den Grünen kennt, nicht aber von den Christdemokraten. | |
Eigentlich sollen es ja Fragen sein, aber fast immer sind es Plädoyers für | |
den einen oder anderen. All das ist auffällig ungewohnt in einer Partei, in | |
der es vergangenen Sommer großes Unbehagen wegen des Spitzenkandidaten | |
Henkel gab – und letztlich doch keine einzige Gegenstimme oder kritische | |
Wortmeldung bei dessen Wahl auf dem Landesparteitag. | |
Die offene, lange Debatte ist manchen zu viel; sie regen an, nur reine | |
Fragen zuzulassen: Am nächsten Morgen stehe ja wieder ein Arbeitstag an. | |
Sie können sich nicht durchsetzen. | |
## Ewig wird ausgezählt | |
Kurz nach 22 Uhr scheint alles gesagt, und die stoßseufzende CDUlerin | |
bewegt sich langsam Richtung Wahlkabine. Eine ganze Stunde dauert es, bis | |
das Ergebnis vorliegt: Die Überraschungskandidatin von Falkenhayn ist mit | |
37 Stimmen raus, Wellmann (259) und Heilmann (257) gehen fast gleichauf in | |
die Stichwahl. | |
Wieder kursieren Mutmaßungen: Die Von-Falkenhayn-Stimmen, das seien doch | |
Leute, die Wellmann grundsätzlich nicht mehr wollten. Die würden doch jetzt | |
alle für Heilmann votieren. Von Falkenhayn selbst könnte ans Mikro treten | |
und eine Empfehlung abgeben. Aber das macht sie nicht. Sie habe ja gerade | |
deshalb kurzfristig beworben, weil beide – Wellmann wie Heilmann – ihre | |
Verdienste hätten, sagt sie der taz. | |
Bei Runde zwei geht es schneller Richtung Wahlkabine, der Ablauf wirkt | |
schon routiniert. Das Ergebnis lässt trotzdem auf sich warten. Heilmann | |
kommt an den Journalisten vorbei, erzählt einem Grüppchen, dass man nochmal | |
nachzählen müsse. Andere berichten von einem Patt. Nervenzehrende Minuten | |
verstreichen. Für die Kandidaten geht es ums Mandat, für die Mitglieder um | |
den Schlaf. | |
Es ist nach Mitternacht, als es offiziell wird: 245 zu 245. Unentschieden! | |
Ein absurd anmutendes Ergebnis angesichts der vielen abgegebenen Stimmen. | |
Viele Besucher sind nach der Stimmabgabe schon nach Hause, einige | |
inzwischen aber wieder zurückgeeilt, alarmiert durch Anrufe oder SMS. | |
Werden die Älteren, die eher Wellmann zugerechnet werden, jetzt müde | |
werden? Oder sind sie, die Nachkriegsgeneration, die Disziplinierteren mit | |
mehr Sitzfleisch? | |
Die Versammlungsleitung stellt die Optionen vor: eine halbe Stunde | |
dranhängen, nochmal abstimmen und bei einem erneuten Patt losen? Oder | |
vertagen? Schließlich ist es mit dem einen Ergebnis ja nicht getan: Man | |
muss auch noch Delegierte für den Landesparteitag am 25. März wählen. | |
Allerdings gibt es für einen neuen Anlauf noch keinen Ort, und angesichts | |
der 14-tägigen Einladungsfrist würde das knapp. | |
Heilmann und Wellmann möchten nichts konkret empfehlen. Sie wollen die | |
Mitglieder entscheiden lassen. Auch sie scheinen den Überblick verloren zu | |
haben, wie stark nach großer Abwanderung ihre Anhängerschaft im Saal noch | |
ist. Diesmal gibt es eine offene Abstimmung. Der Ruf des Bettes ist | |
stärker: Es wird abgebrochen. Kopfschüttelnd verschwinden nicht wenige in | |
die Dunkelheit. | |
Einen Neuanfang hatten mantramäßig viele Redner an diesem Abend gefordert. | |
Aber erst mal werden Wellmann und Heilmann jetzt das weitermachen, was sie | |
in den letzten Wochen beschäftigt hat: mutmaßliche Anhänger abtelefonieren | |
und bequatschen; sie bitten, sie drängen, auf jeden Fall bei der nächsten | |
Abstimmung vorbei zu kommen. Demokratie ist echt Arbeit – und die geht auch | |
nach diesem Abend weiter. | |
2 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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