# taz.de -- Diskuswerfer Christoph Harting: „Ich möchte meine kleine heile W… | |
> Christoph Harting erklärt, warum er sich absurde Weltrekordweiten zum | |
> Ziel setzt und wieso ihm die Ansprüche anderer Menschen an ihn egal sind. | |
Bild: Christoph Harting auf der Ehrung der Teilnehmer an den Olympischen Spiele… | |
Es ist ein langer Tag für Christoph Harting. Er hat am Vormittag trainiert | |
im Kraftraum, dann vier Stunden an der FU Berlin verbracht, um in seinem | |
Psychologie-Studium voranzukommen. Am Abend im Ostberliner Restaurant Vino | |
del Sol freut er sich auf ein „richtig fettiges Essen“, denn zu Hause bei | |
seiner Familie, seiner Frau und seiner neunjährigen Tochter, ist wegen | |
Grippe nur Schonkost angesagt. Harting, der in Sportklamotten erscheint, | |
bestellt sich eine Pizza Mista mit Extra-Käse. | |
taz: Herr Harting, Sie starten am Freitag beim Istaf-Indoor-Meeting in die | |
Saison. Ihr Bruder Robert hat abgesagt. Wie weit können Sie werfen? | |
Christoph Harting: Angepeilt habe ich 65 Meter, wie jedes Jahr (lacht). Man | |
sollte nicht zu viel erwarten. | |
Sie sind leichter als im Sommer. Richtig? | |
Etwa zehn Kilo. Ich fang meistens an mit 114 Kilo, und dann habe ich in der | |
Spitze bis zu 125 Kilo. | |
Dann dürfte ihr Körperfettanteil auch ziemlich niedrig sein. | |
Alles, was über 7 Prozent Körperfettanteil liegt, ist für mich persönlich | |
eine Beleidigung, ich bewege mich im Rahmen zwischen 4 und 6 Prozent. Fast | |
wie ein Sprinter. | |
Sie haben angekündigt, irgendwann einmal 80 Meter weit werfen zu wollen, | |
Fabelweltrekord. Wie passen Sie dafür in diesem Jahr Ihren Trainingsplan | |
an? | |
Ich mache weniger. Mein Vorbild Al Oerter hat das ähnlich gemacht: Der ist | |
Olympiasieger geworden, hat sich ein Jahr komplett aus dem Sport | |
herausgenommen und sich drei Jahre langfristig aufgebaut, um wieder | |
Olympiasieger zu werden. Das hat er viermal in Folge geschafft. Ich nutze | |
dieses „Weniger“ an Training auch, um mich technisch deutlich | |
weiterzuentwickeln. Mein Ziel sieht vor, in zwei bis drei Jahren Weltrekord | |
zu werfen und 2020 erneut olympisches Gold zu holen. | |
Mit Verlaub, 80 Meter als fantastische Zielmarke, wie soll das ohne Doping | |
gehen? War es klug, die 80 Meter ins Spiel zu bringen? | |
War es. Wenn 80 Meter nur mit Doping möglich sind, dann werde ich sie eben | |
nie werfen. | |
Die Frage ist doch, wie weit kann man das Spiel mit so einer Zielmarke | |
treiben, ohne dass die Öffentlichkeit das Gefühl hat, jetzt wird es absurd. | |
Das wird man erst wissen, wenn der erste Sprinter über 100 Meter unter acht | |
Sekunden läuft. Nein, ich ich bin der, der langfristig plant, der | |
langfristig ein Ziel verfolgt. In Rücksprache mit meinem Trainer Torsten | |
Lönnfors haben wir die Fristen gesetzt. | |
Sie wurden zuerst zusammen mit Ihrem Bruder von Werner Goldmann betreut, | |
jetzt allein von Lönnfors. Was unterscheidet die Coaches? | |
Werner Goldmann hat mir gezeigt, wie man arbeitet. Wie man das Haus baut. | |
Torsten Lönnfors hat mir gezeigt, dass man dazu auch Werkzeug benutzen | |
kann. Er hat die Stärken verstärkt und die Schwächen ausgemerzt. | |
Ihr Bruder trainiert ja zeitlich weiter mit ihnen, nur angeleitet von einem | |
anderen Trainer. | |
Ja, wir stehen im Kraftraum anderthalb Meter nebeneinander. | |
Und das geht gut? | |
Ja. (lacht) Das Gute an der unmittelbaren Konkurrenzsituation ist, dass sie | |
extrem leistungsfördernd ist. Im Sinne von: Jeder will besser sein als der | |
andere. | |
Warum trainieren Sie nicht mehr mit Ihrem Bruder zusammen? | |
Es ging nicht mehr. Es war wie bei einem Flugzeug, bei dem plötzlich beide | |
Turbinen Feuer fangen und der Trainer, hier als Mechaniker, nicht | |
zeitgleich beide Brände löschen kann. | |
Warum studieren Sie Psychologie? | |
Am meisten interessiert mich: Warum reagieren Menschen, wie sie reagieren? | |
Was ist der Grund? | |
Darüber hinaus leisten Sie den sogenannten Polizei-Regeldienst auch mal in | |
Brennpunkt-Revieren ab, am Alex zum Beispiel. | |
Ja, es gab dort einige Vorfälle, welche einen zum Nachdenken anregen, die | |
Kollegen dort draußen stimmen dem wahrscheinlich ohne zu zögern zu. Das | |
gibt einem noch eine ganz andere Perspektive. Der persönliche Reifeprozess | |
ist dann ein anderer. | |
Sie führen also kein Leben in einer Sportlerblase? | |
Das Letzte, was ich möchte, ist das Leben in einer Sportlerblase. Ich | |
wollte nie nur für den Sport leben. Da hätte ich gar keinen Platz. Mir war | |
immer klar, dass der Sport nur temporär begrenzt ist. | |
Vor Ihrem Olympiasieg mit 68,37 Metern haben Sie medial sehr enthaltsam | |
gelebt. Warum reden Sie jetzt wieder mit der Presse? | |
Angriff ist die beste Verteidigung. (lacht) Auch vor Olympia 2020 werde ich | |
keine Interviews geben. Das lenkt mich zu sehr ab. | |
Ihren Medienboykott haben manche Journalisten als Trotzphase interpretiert. | |
Ach, man konnte so viele Sachen lesen, und ein Großteil davon war einfach | |
stumpf unwahr. | |
Was denn? | |
Dass gegen mich nach den Geschehnissen von Rio strafrechtlich ermittelt | |
wurde. Es gab auch kein Disziplinarverfahren der Polizei und kein konkretes | |
Schlag-den-Star-Angebot über 60.000 Euro. | |
Ihr Chef bei der Polizei in Kienbaum war [1][nach Ihrer Hampelei auf dem | |
Podest] doch zumindest verstimmt? | |
Ich habe nicht nur positives Feedback bekommen, aber unser Verhältnis ist | |
gut, direkt, ehrlich. Man arbeitet die Ereignisse gemeinsam auf und blick | |
danach auf kommende Aufgaben. Gut, es war nicht alles toll in Rio, aber es | |
gab nie einen Grund, das melodramatisch überzubewerten. | |
Waren Sie verblüfft über die [2][zum Teil harsche Kritik an Ihrem | |
Verhalten]? | |
Ich hab vieles nicht mitgekriegt. Ich lag mit meiner Familie am Strand in | |
Rio. | |
In aller Seelenruhe? | |
Wenn man mit sich im Reinen ist, kann einen nichts erschüttern. Du kannst | |
es nie jedem recht machen. Warum mit Leuten streiten, die nicht mit dir | |
einer Meinung sein wollen. | |
Ihr Auftritt in Rio de Janeiro gegenüber den Medien, das verweigerte | |
ZDF-Interview etwa, hatte, sorry, etwas Unsouveränes? | |
Alles gut, ein ehrliches Feedback ist besser als gar keins. Mir ging es um | |
die Gleichberechtigung der Journalisten. Ich hatte das gesamte Jahr kein | |
Interview gegeben und wollte niemanden bevorzugen, sondern dieser Linie, | |
zugegebener Maßen zu krampfhaft, treu bleiben. Vielleicht hätte man das | |
besser lösen können. | |
Warum waren Sie in dem Moment, wo Ihnen so ein großartiger Erfolg | |
beschieden ist, nicht generös und locker? Auf der berüchtigten | |
Pressekonferenz danach wollten Sie einen Reporter, der Sie mit „Robert | |
Harting“ angesprochen hatte, am liebsten rauswerfen. | |
O Gott, bitte nicht! | |
Das war schwer zu verstehen. | |
Ich wollt meine Ruhe haben, und die habe ich nicht gekriegt. Ich habe eine | |
Viertelstunde mit dem zuständigen Kampfgericht diskutiert, dass ich nicht | |
in die Pressekonferenz gehen möchte. Ich kam nicht drumherum. Ich wollte | |
nur heraus aus dem Getümmel – und zu meiner Familie. | |
Sie waren überwältigt? | |
Ich war gefangen. | |
Bitte? | |
Ich war gefangen. Die Leute, die 365 Tage im Jahr hinter mir stehen. Die in | |
Kauf nehmen, dass ich so viel weg bin, wenig Freizeit habe, die wollte ich | |
zuerst in die Arme schließen und an meinen Emotionen teilhaben lassen. Das | |
durfte ich einfach nicht. Ich durfte als freier Bürger nicht zu meiner | |
Familie! Mittlerweile muss ich sagen: Ich habe mich provozieren lassen, in | |
der Situation war das auch einfach – wie wenn man einem Kind das Eis | |
wegnimmt. Ich war emotional nicht stabil. Das nächste Mal bin ich schlauer, | |
das war echt doof gelöst. | |
Haben Sie sich den Shitstorm in Deutschland dann noch einmal näher | |
angeschaut? | |
Die Artikel selbst habe ich meistens gar nicht gelesen, sondern die | |
Kommentarspalten dazu. Das war ein Gaumenschmaus. Die zwei Lager, von „Wie | |
kann der denn noch Deutscher genannt werden“ bis zu „Wie kann man aus einer | |
Mücke so eine Air Force One machen“. Amüsant. | |
Warum sind Sie nicht im Netz, nicht auf Facebook, nicht auf Twitter, | |
nirgendwo? | |
Ich habe ja nicht mal einen YouTube-Channel. Ich bin ja so was von 90er. | |
Warum nicht? | |
Da geht es doch nur um Selbstdarstellung. Ich habe einen zu großen Respekt | |
vor den sozialen Medien. Ich weiß, wie Datenverarbeitungssysteme | |
funktionieren. Ich weiß, welche Daten ausgelesen werden. Und ich weiß auch, | |
wie transparent ein Mensch wird, der diese Daten von sich preisgibt. Das | |
möchte ich nicht. Ich möchte meine kleine heile Welt. Mir geht es nicht | |
darum zu zeigen, wie toll ich bin oder was ich alles kann. Ich habe ein | |
Ziel – und das ist der Weltrekord. Und den werde ich mir holen. Ob das die | |
Leute interessiert oder eben nicht. | |
Aber die Öffentlichkeit hängt immer an Ihnen dran, mit allen Ansprüchen, | |
allem Pipapo? | |
Muss ich mich deswegen verbiegen? | |
Gegenfrage: Sind Sie ein Nonkonformist? | |
Nein, ich bin Uniformist, weil ich Uniform trage. Ich denke, auch wenn das | |
einer der zynischsten Sätze ist, die das Leben je hervorgebracht hat: Jeder | |
ist seines eigenen Glückes Schmied. Ich bin Herr über mich selbst. Ich | |
entscheide. Das kann jeder interpretieren, wie er möchte. | |
10 Feb 2017 | |
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Markus Völker | |
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