# taz.de -- Christoph Hartings Diskus-Gold: Kurze Hose, Holzgewehr | |
> Christoph, nicht Robert Harting gewinnt olympisches Gold im Diskuswerfen. | |
> Und pfeift auf die Nationalhymne bei der Siegerehrung. Durfte er das? | |
Bild: Tusch, Applaus, Vorhang | |
Vor dem letzten Wurf dachte er: „Das lässte dir nicht wegnehmen.“ Sagte der | |
Olympiasieger später. Nach fünf Durchgängen war die Situation für ihn auch | |
schon fein: Christoph Harting lag auf dem Silberplatz, hinter dem | |
polnischen Weltmeister Pjotr Malachowski. Doch dann brachte der bis dahin | |
viertplatzierte Este Martin Kartin Kupper die zwei Kilo schwere Scheibe auf | |
66,58 Meter, der drittplatzierte Deutsche Daniel Jasinski steigerte sich | |
ebenfalls, auf 67,05 Meter – Christoph Harting war plötzlich nur noch | |
Vierter. | |
Aber, und das war das eigentlich Olympiasiegerwürdige, er wusste seinen | |
Körper so zu beruhigen und zugleich in Spannung zu bringen, dass er frei | |
von nervöser Zitterei das Gerät auf 68,37 Meter und den ersten Platz | |
schleuderte. Malachowski konnte nicht mehr nachsetzen: Harting hatte Gold, | |
und zwar der jüngere Bruder des Goldgewinners von London, der dreimalige | |
deutsche Sportler des Jahres Robert Harting. | |
Sein am späten Abend von Rio geäußerter Satz, dass er sich eine Medaille, | |
womöglich die wertvollste, „nicht wegnehmen“ lassen wollte, verwies auf die | |
lange Vorgeschichte des Christoph Harting: Tags zuvor war sein Bruder | |
Robert hexenschussgeplagt (beim Lichtausmachen im Zimmer des olympischen | |
Dorfs – wie absurd ist das eigentlich? – zog er sich die Verletzung zu) | |
ausgesiebt worden: sein ewiger großer Bruder, sechs Jahre älter, der immer | |
alles besser wusste, der ihn nervte und triezte und womöglich in dieser | |
familiären Konkurrenz erst zu dieser sportlichen Leistung befähigte. | |
Aber würde Christoph Harting dem Druck widerstehen? In Amsterdam neulich | |
bei der Europameisterschaft hampelte er herum und wuppte sportlich nix – | |
jetzt in Rio war er auf die Sekunde konzentriert und ließ sich das Geschenk | |
seines Bruders, schon im Vorkampf ausgeschieden zu sein, nicht nehmen. | |
## Altväterlich zum Generationswechsel | |
Beide aber, Christoph und Robert, zehren von ihrer Vergangenheit als Kinder | |
üblerer DDR-Erbschaft: aufgewachsen im „Ghetto“, wie Robert Harting in | |
seiner drastischen Sprache mal sagte, in einem inzwischen abgerissenen | |
Wohnblock in Cottbus. „Ich habe für ihn die Erziehungsrolle beansprucht und | |
ihm viele Dinge aufdiktiert“, teilte er mal über seine Rolle dem kleinen | |
Bruder gegenüber mit. Und: „Ich habe eben versucht, es so zu machen, wie | |
ich dachte, dass man so was macht. Was zu Aversionen bei ihm geführt hat.“ | |
Christoph Harting muss ihn verehrt haben und zugleich frustriert darüber | |
gewesen sein, an seinem großen Bruder nie vorbeizukommen: Robert sei „wie | |
ein Lehrer, der alles besser weiß – und Lehrer mochte ich noch nie. Ich | |
hab’ es gehasst, weil er alles besser wusste.“ | |
Und dann hatte Christoph Harting also Gold – und sein Bruder applaudierte | |
auf der Bühne. Las durch ihn über sich: „[1][Hey kleiner Bruder, der | |
Generationenwechsel ist eingeleitet]. Ich freue mich extrem für dich. Du | |
hast einen klaren Harting im letzten Versuch gezeigt. Sportlich brauche ich | |
somit nichts mehr beweisen, denn das kannst jetzt du. Nimm es mit und | |
pflege diese Fähigkeiten. Den Diskus schenke ich dir. Respekt! Zwei | |
Olympiasieger im Einzelsport aus der selben Familie.“ Mit angefügtem Smiley | |
– auch dieser Post auf Facebook nicht ohne (beschützende, | |
erbschaftübertragende) Belehrung: „Pflege diese Fähigkeiten“. | |
Aber ein Robert Harting wurde er dann doch nicht, er blieb Christoph: | |
Zerriss sich unmmittelbar nach dem Goldgewinn nicht das Trikot, röhrte sich | |
sein Triumphgeheul nicht heraus, vielmehr verneigte er sich wie ein | |
Dirigent vor dem Publikum, lässig die Pose, lächelnd die Miene. | |
Bei der [2][Siegerehrung allerdings gab er den bockigen Kerl]. Verschränkte | |
zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ die Arme, guckte sich um, griente und | |
pfiff gar die deutsche Nationalhymne sekundenlang mit. Es war, als wüsste | |
er mit der Brudererbschaft nur linkisch etwas anzufangen, unsicher, ob er | |
in die Rolle des ersten Siegers auch wirklich passt. Als er dann noch am | |
ZDF-Mixed-Zone-Reporter Norbert König vorbeischritt, ohne ihm ein Statement | |
zu geben, war die Empörung bei vielen groß. | |
## Stichelei gegen den Bruder | |
Weitspringer Sebastian Beyer, nicht in Rio dabei, [3][twitterte seine | |
Missbilligung]: „Gold im Diskus ist echt super geil!!! Aber für dieses | |
Verhalten schäme ich mich in Deutschland vor dem TV!“ Andere taten es ihm | |
nach. Christoph Harting wollte überhaupt nicht sprechen, er gebe im | |
olympischen Jahr keine Interviews, aus schlechter Erfahrung. Bei der – für | |
Medaillengewinner verpflichtenden – Pressekonferenz gab er schließlich auch | |
den Misshandelten: Er fühle sich hundeelend, weil er seit zwei Stunden | |
nicht einmal mit seinen engsten Angehörigen habe sprechen können, mit | |
seiner Familie. | |
Seltsam war das, weil für ein kurzes Telefonat in Zeiten nach dem | |
Wählscheibentelefon ja immer Zeit sein müsste. Und dann teilte er auch noch | |
mit, dass er nicht sein PR-Mann sei, das sei ein ganz anderer Beruf, ihm | |
fehle es da an einem Gesellenabschluss. Das war natürlich auch eine | |
Stichelei gegen seinen Bruder Robert, der gerade das gelernt hat. Und er | |
sei auch mehr „introvertiert“, nicht so laut, hieß das wohl. | |
Das war die einzige echte Flunkerei dieser denkwürdigen Performance eines | |
kleinen Bruders: Christoph Harting, das konnte man vor zwei Wochen beim | |
Robert-Harting-Tag im Bundesleistungszentrum Kienbaum bei Berlin sehen, ist | |
sehr wohl kein leiser Typ, der nicht aus sich herausgeht. Der, was man | |
damals natürlich nicht wusste, spätere Olympiasieger trainierte an diesem | |
Tag einen Raum entfernt von seinem großen Bruder, allerdings im Kreis | |
anderer deutscher Schwerathlet*innen wie Shanice Kraft, Nadine Müller oder | |
David Storl. | |
Hübsch allerdings war, was Christoph Harting auf der Pressekonferenz | |
antwortete auf die Frage, weshalb er denn während der Nationalhymne nicht | |
stillstehen konnte. „Ich bin ein Mensch, der gute Musik und Rhythmus liebt. | |
Es ist übrigens schwer, auf die Nationalhymne zu tanzen.“ Prima Statement – | |
denn hat er nicht recht? Gleichwohl: Es verging einige Zeit, vielleicht | |
zwei Stunden, ehe sich Christoph Harting ein wenig besonnen hatte. | |
Irgendjemand muss auf ihn Einfluss gehabt haben, vielleicht sein Vater | |
Gert, von dem später zu lesen war: „„Christoph will seinen Spaß haben. Das | |
hat man ja auch bei der Vorstellung der Athleten gesehen, als Christoph bis | |
zuletzt der Musikgruppe zugehört hat. Da hat man ihn total authentisch | |
erlebt.“ | |
## „Doof gelaufen“ | |
Wobei: Siegerehrungen wurden immer schon als Catwalks persönlichster und | |
politischster Manifestationen genutzt, [4][aktuell auch durch den | |
britischen Radfahrer Bradley Wiggins]. Oder, vor 48 Jahren in Mexiko-City | |
nach dem 200-Meter-Finale – als Tommi Smith (Gold) und John Carlos (Bronze) | |
[5][die Fäuste zur Solidarität mit der Black-Panther-Bewegung] hoben. | |
Jedenfalls, als Christoph Harting sich etwas sortiert hatte, [6][sagte er | |
der ARD], das mit der Siegerehrungt sei „doof gelaufen“ – vielleicht hatte | |
er inzwischen auch verstanden, dass es für die allermeisten Sportler ein | |
Traum wäre, eine olympische Medaille zu erringen und dass Christoph Harting | |
durch sein Verhalten sie irgendwie auch verspöttelt hat. Er sei total auf | |
Hormonen gewesen, Testosteron und Adrenalin, und dass er sich das alles | |
nicht in den kühnsten „Tagträumen“ hätte ausmalen können, was er da | |
geschafft hat: „Kannst du dir das ausmalen? Die Nationalhymne – nur für | |
mich?“ | |
Der kleine Bruder also, der endlich mal nicht mit dem großen Bruder etwas | |
teilen muss. Das mit der Siegerehrung sei also „doof gelaufen“. Und, | |
authentisch: „Ick – völlig out of order.“ Er, Christoph Harting, nebenbei | |
noch sagend: Er „kurze Hose, Holzgewehr“ – das war die Ausgangslage, und | |
nun sei er „eine Legende“. Womit er seit Samstag Abend mitteleuropäischer | |
Zeit vollkommen richtig liegt. Er darf jetzt auch lange Hosen tragen – auch | |
wenn (ihm) Robert Harting immer sein großer Bruder bleibt. | |
14 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/DerHarting/posts/1230019657029982 | |
[2] http://rio.sportschau.de/rio2016/videos_audios/Olympia-Rio-Leichtathletik,o… | |
[3] https://twitter.com/SebBayer/status/764502133370593280?ref_src=twsrc%5Etfw | |
[4] http://www.mirror.co.uk/sport/other-sports/cycling/sir-bradley-wiggins-cele… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=bWI9raEM1-4 | |
[6] http://rio.sportschau.de/rio2016/videos_audios/Christoph-Harting-bedauert-s… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Nationalismus | |
Nationalhymne | |
Christoph Harting | |
Lesestück Interview | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Robert Harting | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Diskuswerfer Christoph Harting: „Ich möchte meine kleine heile Welt“ | |
Christoph Harting erklärt, warum er sich absurde Weltrekordweiten zum Ziel | |
setzt und wieso ihm die Ansprüche anderer Menschen an ihn egal sind. | |
Olympianacht in Rio: Pinguine do Brasil | |
Eine nasse Tartanbahn wird kreativ umgenutzt, Brasilien hat mit da Silva | |
seinen Goldjungen und Usain Bolt kann Siegerehrung. | |
Boxen bei Olympia: Traue nie einem Juroren | |
Die Deutschen sind beim Boxen chancenlos und werfen deshalb | |
Verschwörungstheorien in den Raum. Das Misstrauen basiert auf | |
Erfahrungswerten. | |
Kommentar Harting tanzt bei Olympia: Verschont uns, ihr Tugendwächter! | |
Zur Nationalhymne lässt sich schwer tanzen. Christoph Harting versucht es | |
dennoch. Respektlos? Nein, Hymnen werden ohnehin überschätzt. | |
Olympianacht in Rio: Kaum zu fassen | |
Deregulierte Ausnahmeregelungen, Dänemark wird zur Schwimmnation und eine | |
Puerto-Ricanerin schafft das „Wunder von Rio“. | |
Franziska van Almsick in Rio: Und darauf einen Persiko | |
Niemandem hört man beim Kommentieren in Rio so gern zu wie ihr. Van Almsick | |
ist beste Kumpelin und liebste Barfrau in einem. | |
Antisemitismus bei Olympischen Spielen: Israels Athleten gemobbt | |
Sportler aus Israel werden bei Olympischen Spielen oft mit unangemessenem | |
Verhalten konfrontiert. Medien und Veranstalter interessiert das kaum. | |
Männer-Diskuswerfen bei Olympia: Großer kleiner Bruder | |
Wieder holt ein Harting Gold im Diskuswurf: Aber es ist Christoph, der | |
kleine Bruder von London-Sieger Robert. Der applaudert freundlich. | |
Enttäuschte Fechter und Schwimmer: Es herrscht die große Flaute | |
Fechten und Schwimmen waren einst deutsche Olympia-Erfolgsdisziplinen. | |
Vorbei. Wie es besser werden kann, weiß niemand. |