# taz.de -- Komödie „Die feine Gesellschaft“: Romantik ist dem Kannibalen … | |
> Bruno Dumonts Groteske überzeichnet ungelenke Körperpräsenz ins | |
> Slapstickhafte. Jeder Anflug von Einfühlung wird schnell gebrochen. | |
Bild: „Die feine Gesellschaft“ in Hochstimmung | |
„Mais quel bonheur! Welch’ Glückseligkeit (‚Segen‘ heißt es in den | |
Untertiteln nicht ganz korrekt)! Wieder hier zu sein! Auf dem Land!“ Die | |
feine Dame mit dem großen Hut (Valeria Bruni Tedeschi), die auf dem | |
Vordersitz eines offenen Cabriolets steht, umgreift in Feldherrenmanier | |
die weite Landschaft. Und deutet gegenüber ihrer wohl familiären Entourage | |
mit ausholender Geste auf eine zerlumpt gekleidete und schwer beladene | |
andere Gruppe mit Kiepe, Säcken und Handkarren in einiger Entfernung: „Seht | |
nur die Muschelsammler! Wie pittoresk!“ | |
Einer aus dieser Gruppe, ein junger Kerl mit kantigem Kinn und dem | |
trotzigem Blick eines vom Leben nicht verwöhnten Mannes, spuckt in ihre | |
Richtung: „Das Auto stinkt.“ Es ist Ma Loute, der Älteste von vier Söhnen | |
der Muschelsammlerfamilie, die gerade von ihrer beschwerlichen Arbeit an | |
der karstigen Küste in ihren Unterschlupf zurückkehrt. | |
Das populäre französische Kino scheint von der Versöhnung krasser sozialer | |
Gegensätze oft geradezu besessen und lässt Hilfsarbeiter, Analphabeten oder | |
Concierges die Klassenschranken überwinden. So könnte man das Schlimmste | |
befürchten, wenn in „Die feine Gesellschaft“ schon nach zwei Filmminuten in | |
einem Hohlweg hinter den Dünen der französischen Kanalküste | |
mürrisch-ländliche und mondän-städtische Lebensweisen aufeinanderprallen | |
und das heranknatternde Auto der reichen Sommerfrischler den überladenen | |
Handkarren zum Umstürzen bringt. | |
Doch wir sind in einem Film von Bruno Dumont. Und der 62-Jährige hat sich | |
seit seinem späten Filmdebüt „La vie de Jésus“ vor zwanzig Jahren einen | |
Namen gemacht als ein französischer Autorenfilmer, der sich statt | |
Sentimentalitäten vornehmlich der Darstellung der unschönen und | |
gewalttätigen Seiten des Lebens widmet und die Versöhnung dem dialektischen | |
Vermögen des Zuschauers überlässt. | |
Dabei hat er sich trotz einiger durchgehender Leitmotive in jedem seiner | |
bisher sieben Spielfilme wieder neu erfunden. Zweimal (für „Humanité“ | |
(1999) und „Flandres“ (2006) wurde er dafür beim Filmfestival in Cannes mit | |
dem Großen Preis der Jury geehrt. | |
## Umbruch im moralischen Minimalismus | |
Auch „Ma Loute“, wie der neue Film nach einem seiner Helden (und einem | |
angeblich pikardischen Dialektausdruck für das männliche Glied) im Original | |
heißt, lief im Wettbewerb von Cannes. Er markiert in mehreren Aspekten | |
einen Umbruch in Dumonts bisherigem strengen moralischen Minimalismus, | |
knüpft allerdings auch als eine Art Spin-off an Dumonts letzte für den | |
Fernsehsender Arte realisierte Arbeit an: die Miniserie „P’tit Quinquin“, | |
die mit ihren vier überschwänglich grotesken Episoden um zwei tölpelhafte | |
Polizisten einen neuen komödiantisch verspielten Ton in Dumonts Werk | |
brachte. | |
Aus „Camille Claudel 2015“ dagegen übernimmt er Hauptdarstellerin Juliette | |
Binoche und das Konzept, den Star (hier ergänzt durch Valeria Bruni | |
Tedeschi, Fabrice Luchini und Jean-Luc Vincent) in ein Ensemble aus lokalen | |
Laiendarstellern zu setzen. | |
Für „Ma Loute“ reduziert Dumont Ideenübermut und Handlungsfülle aus „P… | |
Quinquin“ deutlich, übernimmt aber die Figuren der Polizisten, die (mit | |
Didier Després und Cyril Rigaux neu besetzt) mit kontrastierender | |
Körperstatur und viel zu kleinem Automobil an Laurel & Hardy erinnern: | |
Inspektor Machin schleppt so viel Volumen mit sich herum, dass er sich zur | |
Begutachtung bodennaher Indizien mit Hut und schwarzem Anzug einfach zu | |
Boden plumpsen lässt oder einen Hügel herabrollt. | |
## Konzert an Bewegungsabsonderlichkeiten | |
Auch sonst ist die oft ungelenke Körperpräsenz früherer Dumont-Filme hier | |
ins slapstickhaft Groteske überzeichnet. Ma Loute und sein Vater (ein | |
ehemaliger Seeretter) verdienen sich ein Zubrot, indem sie die weiblichen | |
Urlauber statt mit dem Kahn mit den eigenen starken Armen über die | |
Wasserläufe tragen. Und während die Einheimischen sonst oft stumm und | |
störrisch herumstehen, ist bei den Mitgliedern der angereisten Familie Van | |
Peteghem ein ganzes Konzert an Bewegungsabsonderlichkeiten zu bestaunen. | |
So lässt Dumont Isabelles Gatten André (Fabrice Luchini) mit Katzenbuckel | |
und Wackelgang als leicht debilen Abkömmling des Ministry of Silly Walks | |
durch die Gegend schlenzen, während Juliette Binoche als seine exaltierte | |
Schwester mit sichtlicher Lust in hysterischer Gestik schwelgen darf und | |
die obligatorischen französischen Begrüßungsküsschen freigiebig wie | |
Kamellen in die gute Seeluft schmeißt. | |
Die Polizisten sind in umständlichen Ermittlungen einer Verschwindensserie | |
auf der Spur, der Touristen und Touristinnen aus den Kleinstädten der | |
Gegend zum Opfer fallen. Dabei geraten ihnen auch die beiden Familien ins | |
Visier, die beide, wenn auch in sehr unterschiedlichen Umständen, oberhalb | |
der pittoresk grünen Küstenlandschaft mit vielen vorgelagerten Inselchen | |
und von den Gezeiten bewegten Sielen leben (wie in fast allen Filmen | |
Dumonts ist auch hier seine nordostfranzösische Herkunftslandschaft | |
tragender Handlungsort). | |
Die Bruforts (!) wohnen im Anbau eines stattlichen steinernen Bauernhauses, | |
vor dessen Türöffnung sie meist im Hofgrün in einer Art Shabby-Chic-Milieu | |
zwischen alten Landwirtschaftsutensilien und Weinfässern sitzen. Die Van | |
Peteghems haben sich eine modernistisch klobige Trutzburg im | |
„ägyptisch-ptolemäischen Stil“ (so Ehemann André) und spektakulärem Bli… | |
als Sommerfrische erkoren, die von Gattin Isabelle mit Hilfe eines lokalen | |
Hausmädchens und einiger Slapstickeinlagen bewirtschaftet wird. Mit dabei | |
sind zwei giggelnde Mädchen und die/der eine paar Jahre reifere Cousin/e | |
wechselnder Geschlechtsanmutung mit dem Namen Billie (Raph), die sich als | |
Einzige nicht übermäßig exaltiert agierende Person ausgerechnet zu dem | |
verschlossenen Ma Loute hingezogen fühlt. | |
Ein bisschen Romeo und Julia auch hier, oder ist es doch eher eine | |
bitterböse Parodie auf jegliche „Salz auf unserer Haut“-Kitschromantik? | |
Jeder Anflug emotionaler Einfühlung wird aber bald gebrochen, denn schon | |
nach zwanzig Minuten macht Dumonts Film dem Zuschauer unmissverständlich | |
sichtbar, wo die verschwundenen Urlauber bleiben: im Kochtopf der Bruforts, | |
aus dem die struppig ungekämmte Mama einen ganzen menschlichen | |
Unterschenkel samt Fuß und Zehen herauszieht und ihrer Truppe zum Essen | |
anbietet. | |
Das knallige Rot von Kochtopffüllung und Fleischstücken ist dabei fast der | |
einzige Farbkontrast zu den Blau- und Brauntönen, die diese im frühen 19. | |
Jahrhundert angesiedelte und von Kameramann Guillaume Deffontaines | |
wunderschön pastellig ins Licht gesetzte Filmwelt zieren. | |
Deren zartes Kolorit erinnert mal an kolorierte frühe Farbfotografien, mal | |
an die Malerei von Gustave Courbet, so dass etwa die | |
Muschelsammler-Strandszene zu Beginn gut ein animiertes Gemälde des Malers | |
sein könnte. Und auch viele Gesichter der ländlichen nicht professionellen | |
Darsteller geben einen sinnlichen Eindruck einer untergegangenen | |
vorkonsumistischen Existenz, die so im heutigen Kino selten sind. | |
Dabei gibt diese Geschichte aus der Frühzeit des Tourismus mit ihren | |
mürrischen Kannibalen vielleicht eine Ahnung von den Verwüstungen des | |
kapitalistischen Fortschritts, die gerade als verdrängte Gespenster in die | |
Politik zurückkommen. Die Privilegierten – Herkunft und Art ihres | |
Wohlstands bleiben in Dumonts Film bis zum Schluss unklar – sind dabei nur | |
Karikatur, die auf amüsante Art Klischees zitiert. Goutieren kann man das | |
als böse, allerdings deutlich überlange Antwort auf [1][Filme wie | |
„Willkommen bei den Schtis“]. Viel mehr aber nicht. | |
26 Jan 2017 | |
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## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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