# taz.de -- Ungesühnte NS-Verbrechen: Die Zeit läuft davon | |
> Sie warten immer noch auf ihre Rente: Überlebende, die als Kind von den | |
> Nazis in Ghettos gesperrt wurden und dort gearbeitet haben. | |
Bild: Überlebender des Lodzer Ghettos: Władysław Wejs am Freitag in Berlin | |
Berlin taz | Das Herz von Władysław Wejs wurde vor eineinhalb Wochen | |
operiert. Eigentlich soll er es schonen, aber an diesem Tag muss der | |
78-Jährige protestieren. Deshalb ist Wejs um kurz nach fünf Uhr morgens in | |
Polen in den Zug nach Berlin gestiegen. | |
Am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust | |
protestieren Wejs und etwa zehn andere Betroffene, weil viele Überlebende | |
der Nazi-Ghettos keine Rente erhalten. Sie treffen sich am Berliner | |
Holocaustmahnmal. Wejs streckt eine Hand aus, um das Transparent zu | |
berühren, das andere Demonstranten hochhalten. „Ghetto-Renten Gerechtigkeit | |
jetzt!“ steht darauf. | |
Die Nazis sperrten Władysław Wejs als Kleinkind ins Łódźer Ghetto. In dem | |
Stadtteil waren tausende polnische Juden, Sinti und Roma eingepfercht. | |
Władysław Wejs schrubbte Küchen, um zu überleben. „Im Ghetto musste man | |
sich jedes Stück Brot, jeden Teller Suppe erarbeiten“, erzählt er der taz. | |
Er war fünf Jahre alt, als er anfing zu arbeiten. Zu jung, sagt die | |
Bundesregierung heute: Für seine Arbeit im Ghetto bekommt Wejs keine Rente, | |
weil er damals noch ein Kind war. | |
## 100 oder 200 Betroffene leben noch | |
Markus Tervooren ballt die rechte Faust, in der linken hält er ein Megafon. | |
„Das ist keine Entschädigung, das ist keine Belohnung, sondern das ist eine | |
Rente, die man sich erarbeitet hat“, ruft Tervooren. Er ist Geschäftsführer | |
eines antifaschistischen Vereins. „Die 100 oder 200 Betroffenen, die jetzt | |
noch leben, sind alle von der Ghetto-Rente ausgeschlossen“, sagt er. | |
Erst 2002 hat der Bundestag das Ghetto-Renten-Gesetz erlassen; 2009 und | |
2014 änderte er Formulierung und Auslegung noch mal. | |
Wer das Geld erhalten will, muss der Rentenversicherung mindestens fünf | |
Jahre lang angehört, also in Deutschland gelebt und gearbeitet haben. Wer, | |
wie viele Sinti und Roma, nach dem Ghetto nie in Deutschland arbeitete, | |
erfüllt die Kriterien nicht. | |
Es gibt auch Ausnahmen, etwa für Menschen, die ihre Angehörigen gepflegt | |
haben oder während des Kriegs geflüchtet sind. Diese Ausnahmen gelten aber | |
nur für über 14-Jährige. Das ist der Grund, aus dem Władysław Wejs bislang | |
vergeblich auf Geld wartet: Er floh nach dem Krieg vor der Verfolgung durch | |
die Wälder. In seinem 14. Lebensjahr lebte er schon längst in Polen. | |
## Linkspartei will schnell handeln | |
Was sagt die deutsche Rentenversicherung zu solchen Fällen? „Es ist | |
schwierig, etwas an der Ghetto-Rente zu ändern und trotzdem noch die | |
Gleichbehandlung gegenüber anderen Renten zu bewahren. Eine Änderung der | |
Ersatzzeitenregelung wäre möglich – aber das ist eine politische | |
Entscheidung“, sagt Roland Moser von der Knappschaft Bahn-See der taz. | |
Die politische Entscheidung könnte unmittelbar bevorstehen: Die Linkspartei | |
hat im Sommer einen Antrag im Bundestag gestellt, der bald im Ausschuss für | |
Arbeit und Soziales diskutiert wird. „Gerade für diese besonders | |
verletzliche Gruppe der Kinder, die bis heute schwer traumatisiert sind, | |
muss eine besondere Lösung geschaffen werden“, kommentiert | |
Ausschuss-Mitglied Azize Tank gegenüber der taz. „Wir müssen schnell | |
handeln!“, sagt die Linkspartei-Politikerin. | |
Auch Władysław Wejs läuft die Zeit davon: „Ich bin jetzt schon 78. Und | |
meine Gesundheit wird immer schlechter“, sagt er, die Stelen des Mahnmals | |
im Rücken. „Ich hoffe, dass ich das noch erlebe.“ | |
27 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Jana Anzlinger | |
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