# taz.de -- Buch „Die Frau des Croupiers“: Wo bleibt Otto Jägersberg? | |
> In den Sechzigern war er fast berühmt, dann war die öffentliche | |
> Aufmerksamkeit weg. Doch er schrieb weiter. Eine Empfehlung, diesen Autor | |
> zu lesen. | |
Bild: Der Autor als junger Mann: Otto Jägersberg 1976 | |
Als Otto Jägersberg Anfang der Sechziger mit der deutschen Literatur eine | |
Liaison einging, da weitete sich die Realität, wie immer bei großen | |
Liebesgeschichten, ins Märchenhafte. | |
Jägersberg selbst hat die Anekdote, wie er zu seinem Verlag kam, als | |
abgründiges Betriebsmärchen erzählt. Als Helfershelfer bei V.O. Stomps | |
legendärer kleiner Eremitenpresse treibt er sich auf der Frankfurter | |
Buchmesse herum. | |
Anfang der Sechziger darf man als Junggenie sogar noch ein Buch in spe mit | |
sich führen – heute steht darauf sofortige Exkommunikation. | |
Damals aber interessiert sich eine Berliner Vertreterin für das Manuskript | |
und nimmt es mit, „aber nicht nach Berlin, nur um einige Ecken rum, in so | |
eine dunkle Koje, wo sie liegenließ, was sie mir abgenommen hatte, und dann | |
nach Berlin fuhr. Am Wurststand sah ich einen Mann, der Wurst aß neben | |
einer Dame, der Mann aß die Wurst mit den Fingern und sah ungesund, aber | |
fröhlich aus, er wischte seine fettigen Finger auf einem Umschlag ab, in | |
dem das war, was die Berliner Dame mir abgenommen hatte.“ | |
## „Weihrauch und Pumpernickel“ | |
Es kommt alles, wie es kommen muss. Zwei „ungewöhnlich blasse Jugendliche“ | |
besuchen ihn bei der Eremitenpresse, nehmen ihn mit, „nur einige Ecken rum, | |
in so eine dunkle Koje. Der Mann war da, der so fröhlich Wurst gegessen | |
hatte, er gab mir die Hand und zu trinken, schwieg und sah unverständlich | |
fröhlich aus. Er trank weniger als ich, dafür war er auch unrasiert. Seinem | |
Schweigen war zu entnehmen, dass er das, was die Berliner Dame mir | |
abgenommen hatte, zu einem Handelsobjekt machen wollte. Später erfuhr ich, | |
dass der Mann Schweizer Bürger ist und dass Schweizer eine andere Sprache | |
sprechen.“ | |
Der unrasierte Halbtemperenzler ist Daniel Keel, der Diogenes-Chef, und | |
Jägersbergs Buch „Weihrauch und Pumpernickel – ein westpfählisches | |
Sittenbild“, das 1964 erscheint, eines dieser Debüts, das zwar nicht von | |
deutschen Kultusministerien kanonisiert, aber auch so von den richtig | |
gebildeten Ständen durch die Jahrzehnte gereicht, im Grunde also doch | |
kanonisiert wurde. | |
Es besaß diese gewisse Aura, selbst wenn man es nicht gelesen hatte, wusste | |
man immer, es gibt da noch Otto Jägersbergs „Weihrauch und Pumpernickel“. | |
Nicht ganz unschuldig daran ist Arno Schmidt, dem Keel ein strategisches | |
Vorabexemplar zukommen lässt. Jägersberg erweist ihm darin nämlich nicht | |
nur gelegentlich stilistisch seine Reverenz, er erwähnt ihn als so eine Art | |
Schutz- und Schirmherr des Buches sogar namentlich. Und der so Angehimmelte | |
reagiert wie gewünscht. „Das Buch verdient unbedingt, gedruckt zu werden“, | |
schreibt er Keel am 25. Juni 1964. „So viel gewandter Derbheit müsste es | |
eigentlich gelingen können, eine empfindliche Lücke auszufüllen, und das | |
literarisch nicht erfasste – korrekter: sich gegen eine Erfassung | |
sträubende! – Landvolk mit modernen Mitteln abzubilden.“ | |
## „Nette Leute“ | |
Bekanntlich hielt Schmidt nicht gar so viel von der zeitgenössischen | |
Literatur. Martin Walser und Ernst Kreuder etwa watschte er ziemlich ab, da | |
kannte er keine Freunde. Von den Jüngeren ist er eigentlich nur Peter | |
Rühmkorf und Hans Wollschläger mit vergleichbarer Sympathie begegnet. | |
Ein Auftakt also, wie ihn sich ein 22-jähriger Autor nur wünschen kann. Die | |
Kritik zeigt sich ebenfalls enthusiasmiert über den „barocken | |
Erzählschwall“ dieses „westfälischen Rabelais“. Das Buch verkauft sich | |
ziemlich gut. | |
Aber schon sein zweiter Roman „Nette Leute“ markiert einen Bruch. Er | |
beschreibt hier einen nicht mehr burlesken, sondern banalen Tag im Leben | |
eines Lexikonvertreters, der nach vielem Warten und Reden am Ende doch noch | |
einen Abschluss tätigt. | |
Die Kritik ist ein bisschen enttäuscht von Jägersbergs plötzlichem | |
Reduktionprogramm. Nur ein einziger Handlungsstrang, liebevoll minutiös | |
erzählt zwar, aber bloß nette Leute, ohne den kraftgenialischen Zugriff des | |
Vorgängers. Auch das Lesepublikum greift nicht mehr so zu wie noch bei | |
„Weihrauch und Pumpernickel“. | |
## „Am Tresen“ | |
Jägersberg muss Geld verdienen, eine kurze Zeit macht er bei Jörg Schröders | |
März-Verlag mit, geht dann zum WDR, führt Regie und schreibt vornehmlich | |
fürs Fernsehen. | |
Das Stehgreifspiel „Am Tresen“, in dem die Protagonisten 14 Folgen lang in | |
einer Dortmunder Eckkneipe die privaten und oftmals auch aktuellen | |
politischen Weltprobleme lösen, kann er dort realisieren, Filmessays wie | |
„Lockerungsübung für Revolutionen. Zürich 1916: Lenin, Joyce, Dada“ und | |
diverse Fernsehspiele mit didaktischem Anspruch und tadelloser linker | |
Gesinnung. | |
Sein größter Erfolg wird die zusammen mit Michael Lentz geschriebene | |
13-teilige Serie „Die Pawlaks“ von 1982, die das Schicksal einer | |
Gastarbeiterfamilie aus Masuren im Ruhrgebiet der 1870er Jahre beleuchtet. | |
Ein aufwendig produziertes Sozialgeschichtsepos, das ein authentisches Bild | |
vom harten Alltagsleben der Zechenkumpel mit ihrem Anhang zu liefern | |
versucht, zugleich ein Lehrstück über die gelingende Integration von | |
Migranten. | |
Jägersberg hat weiterhin Bücher veröffentlicht, Drehbücher, | |
Materialienbände zu den filmischen Arbeiten, 1983 auch noch einen weiteren | |
Roman, „Herr der Regel“. Ein perfides Panorama einer schwäbischen | |
Krämerseelengemeinde – Baden-Baden, wo sich Jägersberg nach Jahren in | |
Berlin, Frankfurt, Zürich, München und Münster schließlich mit Frau und | |
zwei Kindern niedergelassen hat und wo er bis heute lebt. | |
## „Keine zehn Pferde“ | |
Hier wirkte auch sein Hausheiliger Georg Groddeck, der „wilde Analytiker, | |
Es-Deuter, Schriftsteller, Sozialreformer und Arzt“, den er mit einem | |
Sammelband in die Öffentlichkeit zurückholt und dem er auch in der Folge | |
als Herausgeber einzelner Werke und Mitbegründer der | |
Georg-Groddeck-Gesellschaft verbunden bleibt. | |
Schon seine Arbeit fürs Fernsehen ist den hauptamtlichen Literaturverwesern | |
suspekt, man verliert ihn ein wenig aus den Augen. Sein | |
Schriftstellerkollege Jürgen Lodemann beklagt 1979 in der Zeit: „Wo blieb | |
Otto Jägersberg?“ Und auf die in der Folge entstehenden Arbeiten, | |
vornehmlich kürzere Prosa und Gedichte, haben die Feuilletons erst recht | |
nicht gewartet. | |
Er verschwindet unterhalb des Aufmerksamkeitsradars und publiziert seit | |
Ende der Achtziger nur noch sporadisch und meistens in kleinen Verlagen. | |
Seinem Hausverlag Diogenes erscheint er so vergessen, dass der ihn zum | |
Erscheinen des Gedichtbandes „Keine zehn Pferde“ 2015 als Wiederentdeckung | |
anpreisen zu müssen glaubt. | |
## „Die Frau des Croupiers“ | |
Als überaus komischen, beeindruckend souveränen und stilbewussten Lyriker | |
und Kurzprosaisten müsste man ihn allerdings überhaupt erst mal richtig | |
entdecken. Seine gerade erschienene Prosasammlung „Die Frau des Croupiers“ | |
bietet dafür eine neue Gelegenheit. | |
Das Schöne an der Genrebezeichnung Prosa ist ja, dass sich so vieles | |
darunter subsumieren lässt. Diese Offenheit nutzt der Autor in vollen | |
Zügen. Erstaunlich, was hier alles Platz hat und vom lapidaren, die größte | |
Katastrophe mit einer knochentrockenen Ungerührtheit kommentierenden und | |
trotzdem nie empathielosen Jägersberg-Ton zusammengehalten wird. | |
Feuilletons, Anekdoten, Collagen, Kalendergeschichten, Tagebuchblätter, | |
historische Skizzen, Minutennovellen, Short Short Stories, Kurzporträts | |
etc. etc. | |
Jägersbergs Texte sind auf unangestrengte Weise komisch, aber ganz selten | |
Satiren im eigentlichen Sinne. Man merkt ihnen die Absicht nicht an. | |
Diese Pointen haben so etwas grandios Beiläufiges, als erwüchse das | |
Komische ganz organisch dem Dargestellten beziehungsweise noch öfter der | |
Sprache. Er verlacht nichts. | |
## Oettinger und Jesus | |
Gut, den Oettinger schon. „Ein Flaggenvorfall wurde jüngst ausgelöst durch | |
EU-Kommissar Oettinger, als er vorschlug, die Flaggen von | |
EU-Schuldenstaaten in Brüssel auf Halbmast zu setzen, und die Vertreter der | |
betroffenen Länder ihm entgegneten, er solle mal lieber seine Unterhose auf | |
Halbmast setzen.“ | |
Und Jesus natürlich. In dem Gedicht „Als Fußballer“ klagt er: „traute m… | |
nie / aufs Tor zu treten / gab den Ball immer ab / anstatt ihn | |
reinzuknallen // In der Zeitung stehen gabs nicht / außer man trat ab / für | |
immer / aber als Torschütze? // Denk an Jesus / Jesus den Angeber / so | |
einen wolln wir / nicht in der Familie.“ | |
Dem Hehren, Großen, Wichtigen wird schon mal ein Haker gestellt und | |
anschließend auch noch mal der Kopf in den Matsch gedrückt, aber meistens | |
geht es Jägersberg um eine von ihrer Agitprop-Funktion weitgehend befreite | |
Komik. Um das Komische als ästhetisches Erlebnis sozusagen. | |
Bisweilen setzt er auch gar keine richtigen Pointen. Man versteht nicht | |
immer, was eigentlich lustig daran ist, man weiß nur, dass es so ist. Etwa | |
seine zweite „Allerdings“-Variation. „Hörte ein Hörspiel vom | |
Deutschlandfunk und machte es aus, als eine weibliche Stimme: Haun se ma ja | |
nicht so auf die Kacke, sagte, allerdings spielte die Geschichte in Hamm.“ | |
## Profane Kleinigkeiten | |
Das Komische und die kleine Form sind komplementäre Erscheinungsweisen. | |
Auch in der Kürze steckt etwas Subversives, indem sie einerseits das | |
Großkalibrige, Überproportionierte, Pompöse angreift, es gewissermaßen | |
durch den Schredder jagt und andererseits den kleinen Welten, dem Banalen | |
Gehör verschafft. | |
Jägersberg ist ein Meister darin. Er macht die Dinge nicht kostbarer, als | |
sie sind, lässt die profane Kleinigkeit auch mal so stehen, billigt ihr ein | |
Eigenrecht zu, ohne sie unbedingt aphoristisch zum Leuchten bringen zu | |
müssen. | |
Es steckt etwas zutiefst Menschenfreundliches darin. Das Banale ist uns | |
allemal eingeschrieben, wir sollten es achten. | |
11 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
## TAGS | |
deutsche Literatur | |
Literatur | |
Prosa | |
Lyrik | |
Sekte | |
Klima | |
Biografie | |
Außenseiter | |
Deutscher Buchhandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Die Einmannsekte | |
Im Heimatsprengel gab es diesen verschrobenen Typen, der irgendetwas im | |
Kosmos suchte und mit einem Plastikschwert in die Schlacht zog. | |
Kolumne Wir retten die Welt: Auf ewig ein Umweltsünder | |
Wer im Netz seinen ökologischen Fußabdruck berechnet, kommt ins Schwitzen: | |
Selbst Nachhaltigkeitsfreaks verschmutzen mehr als gedacht. | |
20. Todestag von Patricia Highsmith: „Was zählt, sind Obsessionen“ | |
Patricia Highsmith war eine Getriebene, deren destruktive Empfindungen in | |
ihren Romanen ein Ventil fanden. Nun erscheint eine neue Biographie. | |
Die Wahrheit: In der Eigenbrotsuppe | |
Unter den seltsamen Charakteren dieser Welt ist der Sonderling der | |
absonderlichste. Gern werden deshalb abseitige Bilder von ihm gezeichnet. | |
Auszeichnung des Buchhandels: Preis einer gewissen Zirkushaftigkeit | |
Long- und Shortlist sorgen für Rambazamba. Je kürzer die Liste, umso | |
mächtiger ist ihre Wirkung auf den Handel. Letztlich zählt aber nur der | |
erste Platz. |