# taz.de -- Die Wahrheit: Die Einmannsekte | |
> Im Heimatsprengel gab es diesen verschrobenen Typen, der irgendetwas im | |
> Kosmos suchte und mit einem Plastikschwert in die Schlacht zog. | |
Bild: Der Autor als junger Mann: Otto Jägersberg 1976 | |
Shiva war unser Dorfnarr und Heiliger, eine Mischung aus Catweazle und | |
Gandalf, Strauchdieb und ZZ Top. Ein Pilgertyp mit Eigenheim, das er | |
gezielt zu einem spirituellen Kraftzentrum herunterkommen ließ, seinem | |
„Königreich RishiDasa“. Und einem Rennrad. Schon früh, wenn Aurora den Tag | |
mit einem Lächeln begrüßt, war er damit unterwegs und hinterließ an den | |
Fußgängerknotenpunkten unseres Vorstadtweilers seine apokalyptischen | |
Wasserstandsmeldungen. Mit bunter Straßenmalkreide und kalligrafischer | |
Akkuratesse lehrte er uns die wirklich wichtigen Dinge im Kosmos: „Würde, | |
Respekt, Ehrerbietung und das Geheimnis der schwarzen Sonne.“ | |
Der Schriftzug „Heil Shiva“ begrüßte den Fremdling, der seinen Tempel | |
passierte, bisweilen aber auch „Heil Odin“. Er hatte eine weitere gute | |
Antwort auf die leidige Gretchenfrage gefunden. Normalerweise ignoriert man | |
diesen Schmu völlig, wird mindestens Agnostiker, besser aber noch Atheist. | |
Oder aber man macht es wie Shiva. Er nahm sie gleich alle: Islam, | |
Buddhismus, Hinduismus, die germanische Mythologie, den indianischen | |
Totemismus und was die Menschheit sich noch so an lustigen | |
Gottesvorstellungen ausgedacht hat. Er eignete sich bei allen was | |
Mopsfideles an und kochte daraus ein wild blubberndes | |
Einmannsekten-Süppchen, das offenbar vor allem Spaß verbreiten sollte. | |
Die Kinder lachten ihn ein bisschen aus, wie sie das schon mit Diogenes | |
gemacht hatten. An guten Tagen grinste Shiva dazu. An sehr guten Tagen | |
schnitt er eine furchterregende Grimasse und machte einmal trocken: „Buh“. | |
Dann war erst mal wieder ein paar Wochen Ruhe. An den wirklich grandiosen | |
Tagen ging er auch schon mal mit einem Gummischwert auf den Schulhof und | |
stellte sich conanhaft der infantilen Übermacht, bis eine | |
spielverderberische Pausenaufsicht von ihrem Hausrecht Gebrauch machte. | |
Bei einer Freundin aus der Nachbarschaft mit indischen Wurzeln hat er sich | |
früh unsterblich gemacht. Sie war neu im Beritt, als sie ihm zufällig auf | |
der Straße begegnete. Er näherte sich sanft ihrem Gesichtskreis und raunte | |
voll Mitleid: „Ja, ja, die Heimat ist weit weg.“ | |
Ich begegnete ihm gelegentlich im nahen Forst, den Shiva gern aufsuchte, um | |
die Waldgeister um Rat zu fragen, und ich, um die Kellergeister schwitzend | |
auszutreiben. Als ich einmal wieder meine Meter machte, tauchte er | |
gedankenversunken vor mir auf, auf Du und Du mit den Dryaden. Um Shiva | |
nicht zu erschrecken, ächzte und schnodderte ich noch lauter als sonst. | |
Nichts. Einen Meter hinter ihm entbot ich den Segensgruß: „Der Herr erfülle | |
dein Herz mit Zärtlichkeit und deine Augen mit Lachen.“ | |
„Huch“, schrie er erschrocken und schmiss sich lang hin. Ich entschuldigte | |
mich, und seither nickten wir uns respektvoll zu. Waldgänger unter sich. | |
Aber damit ist es jetzt vorbei. Kürzlich meldete der Dorffunk, Shiva sei | |
tot. Offenbar bei seinen Frühtau-Exkursionen in eine Baugrube gefallen. | |
Jetzt werden wir es nie erfahren – das Geheimnis der schwarzen Sonne. | |
15 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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