# taz.de -- taz-Serie Gut vorankommen: Gequatsche nur in der Seniorenecke | |
> Die U-Bahn ist das beste Verkehrsmittel im koreanischen Seoul. Millionen | |
> Pendler verwandeln sie in eine Mischung aus Homeoffice und Kinosaal. | |
Bild: Augenkontakt ist in der U-Bahn nicht vorgesehen | |
SEOUL taz | Eine hellblaue, federleichte Chipkarte: Mehr brauche ich nicht, | |
um einmal quer durch die südkoreanische Hauptstadt zu fahren. Ich lege die | |
Karte auf ein Magnetfeld, nach einem kurzen Piepton öffnet sich eine | |
metallene Schranke. Die U-Bahn-Fahrt durch Seoul kann beginnen. | |
Bereits auf dem Bahnsteig folgt eine erste Überraschung: Mitten im | |
Geschäftszentrum, an der Station Rathaus, sind nur wenige Leute zu sehen. | |
Die meisten haben sich vor Wartemarkierungen in Schlangen eingereiht. Vom | |
bevorstehenden Feierabendgewusel ist um Viertel vor sechs noch nichts zu | |
bemerken: Die Seouler Angestellten verharren weiter im Büro. | |
An beiden Enden der Bahnsteige warten fenstergroße Touchscreens. Nachdem | |
ich hier das aktuelle Kinoprogramm durchforstet habe, rufe ich das Seouler | |
Bahnnetz auf. Die Karte erinnert an einen regenbogenfarbenen | |
Spaghettiklumpen: 20 Linien, 570 Stationen, über 1.000 Kilometer | |
Streckennetz. | |
In der Stadt mit gut 10 Millionen Einwohnern ist die Metro das mit Abstand | |
effizienteste Verkehrsmittel: Autos und Busse müssen auf den Straßen oben | |
um jeden Meter kämpfen, Radfahrer im Feierabendverkehr um ihr Leben bangen. | |
Ohnehin laden die klimatischen Bedingungen hier nicht zum Radeln ein: | |
sibirische Winter, tropische Sommer, im Frühling bedrohlich hohe | |
Feinstaubwerte. | |
Ein penetrantes Jingle mahnt, dass jetzt eine silberne U-Bahn | |
zentimetergenau in die Station rauscht. Mit einem Zischen öffnen sich | |
transparente Trennwände. Erst sie geben den Weg in die Waggons frei. Die | |
Bahnsteigtüren sind ein Versuch, die hohe Suizidrate zu reduzieren: In | |
Seoul soll sich niemand vor die U-Bahn werfen können. | |
Fast alle Passagiere starren auf die in Korea meist übergroßen Smartphones. | |
Das flächendeckende Wifi-Netzwerk verwandelt die U-Bahn für Millionen | |
Pendler jeden Tag in eine Mischung aus Homeoffice und Kinosaal. Es ist | |
gespenstisch still: Kaum jemand unterhält sich, Augenkontakt ist nicht | |
vorgesehen. | |
Lebhafter geht es nur in der Seniorenecke am Waggonende zu, wo eine | |
Handvoll Plätze für ältere Passagiere reserviert sind. Hier wird getratscht | |
und laut telefoniert. Auf halber Strecke gesellt sich ein Herr in | |
Funktionsweste und Polyestershirt dazu, der in jeder Hand ein knappes | |
Dutzend Einkaufstaschen trägt. „Seniorenkuriere“ werden die meist älteren | |
Herren in Seoul genannt, die sich ihre Rente mit Lieferdiensten in der | |
U-Bahn aufbessern. Wer über 65 ist, darf in Seoul gratis mitfahren. | |
„Cheongnyangni, die Tür befindet sich rechts“, schallt eine weibliche | |
Computerstimme durch den Zug – auf Koreanisch, Englisch, Chinesisch und | |
Japanisch. Farbmarkierungen an Boden und Wänden führen nach draußen zur | |
Busstation. | |
Mit dem Wirtschaftswunder wurden Busfahrten in Seoul zu regelrechten | |
Odysseen. Die Stadt platzt nun aus allen Nähten, die Straßen sind | |
knackevoll. Erst mit der Jahrtausendwende revolutionierte der damalige | |
Oberbürgermeister und spätere Präsident Lee Myung-bak den ÖPNV: Er führte | |
Express-Busspuren und ein elektronisches Ticketsystem ein, später stellte | |
er die Busflotte auf Gasbetrieb um. | |
Für mich endet die Fahrt nach fünf weiteren Stationen. Ein letztes Mal | |
halte ich meine blaue Chipkarte an den Magnetleser: 1.650 Won werden | |
abgebucht – 1,30 Euro für eine Fahrt durch Seoul. | |
29 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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