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# taz.de -- Engeline Kramer über Integration: „Ich hatte nur noch eine Alibi…
> Engeline Kramer, bis 2008 Leers stellvertretende Bürgermeisterin und
> Migrationsbeauftragte des Kreises, kümmert sich inzwischen auf eigene
> Faust um Integration
Bild: „Hier bekommen unsere Gäste zum ersten Mal lockeren Kontakt zu Einheim…
taz: Frau Kramer, warum wollten Sie nicht mehr die Migrationsbeauftragte
des Landkreises Leer sein?
Engeline Kramer: Das war ein langer Leidensweg. Ich habe gemerkt, dass ich
auch nach über 30 Jahren Arbeit mit MigrantInnen und der Organisation von
interkulturellen Begegnungen mit Menschen auf der ganzen Welt immer noch
dazulerne. Wenn ich aber im Stadtrat über Hilfen für Flüchtlinge rede, geht
das vielen KollegInnen, entschuldigen Sie, am Arsch vorbei. 2008 habe ich
meine Stelle als Migrationsbeauftragte beim Landkreis gekündigt. Ich hatte
nur noch eine Alibi-Funktion. Bei Abschiebungen ist der Landkreis immer
sehr forsch. An gut organisierter Integrationsarbeit hat er wenig
Interesse.
Welchen Ansatz verfolgen Sie jetzt als freie Trainerin für interkulturelle
Kommunikation?
Wir müssen miteinander kommunizieren, bevor wir über gut oder schlecht
urteilen. Dies betrifft nicht nur unseren Umgang mit anderen Kulturen, es
betrifft auch den Umgang mit uns selbst, innerhalb unserer eigenen Kultur.
Unsere eigene Kultur? Was wäre denn unsere eigene, unsere deutsche Kultur?
Das ist es ja eben. Es gibt nicht die eine deutsche Kultur. Das ist
populistischer Quatsch. Fragen sie mal einen Ostfriesen und einen Bayern,
was sie als deutsch empfinden. Die beiden werden sich nicht einigen können.
Sie können sich nicht mal in derselben Sprache begrüßen! Trotzdem haben sie
klare Bilder voneinander. Das sind Vorurteile.
Und was macht man da?
Wichtig ist, sich zu respektieren, neugierig aufeinander zu sein und zu
schauen, was der jeweils andere zu bieten hat. Ich meine das nicht im
ökonomischen Sinne. Die Debatte, Deutschland braucht Fachkräfte, deswegen
können die Ausländer, die wir benötigen, zu uns kommen, alle anderen
fliegen raus, ist unwürdig. Miteinander leben, voneinander lernen, das ist
der wesentliche Punkt.
Das klingt sehr moralisch.
Nee, überhaupt nicht. Wir haben doch die Erfahrungen mit den sogenannten
Gastarbeitern, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen. Da ist
damals von den Firmen und von den Behörden keine Integration geleistet
worden. Spanier, Türken, Griechen haben sich über ihre Arbeit entweder
selbst gewissermaßen eingedeutscht, sind dann in ihre Heimatländer
zurückgekehrt oder in Deutschland in Ghettos gelandet. In den 1980er-Jahren
kamen dann kurdische und libanesische Flüchtlinge nach Deutschland.
Welche Integrationsangebote wurden den Menschen denn damals gemacht?
In Niedersachsen gab es 1985 eine offizielle Vorschrift, keine Sprachkurse
für die Menschen anzubieten. Die Flüchtlinge sollten sich erst gar nicht
integrieren! Dann wurden die sogenannten Boatpeople aus Vietnam
aufgenommen. Nur privater oder kirchlicher Hilfe ist es zu verdanken, dass
die Menschen hier leben konnten.
Wie sieht es heute aus?
Heute redet zwar jeder über Integration, aber viel gelernt haben die
Institutionen nicht. Gut, es gibt heute bessere Angebote, aber ohne
jegliche Koordination. Wir müssen einfach akzeptieren, dass viele Menschen
aus Syrien, Afghanistan oder Afrika, die aus Verzweiflung zu uns kommen,
nicht mehr in ihre Heimat zurück wollen oder können. Das ist globaler
Politik geschuldet, und niemand kann einen Hebel umwerfen und so die
Situation schlagartig ändern.
Was bedeutet das?
Integration ist zweigleisig, die einen müssen sich integrieren, die anderen
müssen die Integration aber auch zulassen. Und wir dürfen die Länder, aus
denen die Menschen kommen, nicht ausbeuten, sondern müssen mithelfen, dort
lebenswürdige Bedingungen zu schaffen.
Hätten Sie da als Migrationsbeauftragte nicht mehr tun können, als sie es
jetzt als Privatperson vermögen?
Mit einer privaten Initiative haben wir von Leer aus in Afrika zwei
Krankenstationen gebaut, Kindergärten und Schulen eingerichtet. Viele
Leeraner haben die Initiative unterstützt.
So etwas wäre für Sie als Mitarbeiterin des Landkreises nicht möglich
gewesen?
Nach meiner Ausbildung als unabhängige Kommunikationstrainerin bin ich
jetzt völlig frei und kann mehr anschieben. Ich organisiere
Personalschulungen zur interkulturellen Öffnung von Betrieben und
Institutionen. Zurzeit koordiniere ich im Auftrag der
evangelisch-lutherischen Kirche Emden-Leer 30 Ehrenamtliche in Leer im
Projekt Café-International.
Was bieten Sie da an?
Das ist mitten in der Stadt eine Anlaufstelle für Flüchtlinge in der
Region, die oft kilometerweit mit dem Fahrrad zu unseren Kursen kommen.
Darüber hinaus brauchen die Menschen Hilfe bei Anträgen, die selbst für
Deutsche schwer zu verstehen sind. Wir begleiten unsere Gäste auf
Behördengängen. Wir bieten Sprachkurse an. Ein Imam, ein ehemaliger Arzt,
vermittelt seinen Landsleuten, wie der Alltag hier funktioniert.
Was machen Sie anders als der Landkreis?
Bei unseren ehrenamtlichen Helfern bekommen unsere Gäste oft zum ersten Mal
lockeren Kontakt zu Einheimischen. Und so kommt Dialog zwischen den
Kulturen zustande. Integration funktioniert nur in gegenseitigem Kontakt.
In solch lockeren Runden werden auch die entscheidenden, kulturellen
Verständnisfragen gestellt: Wie funktioniert Erziehung bei euch, wie lernt
man Leute kennen, wie verhalte ich mich in alltäglichen Situationen, wo
finde ich für welches Problem Hilfe und so weiter. Wie gesagt, das ist kein
Projekt der Stadt oder des Landkreises. Integrationsarbeit wird und wurde
bisher in ganz Deutschland von Ehrenamtlichen geleistet und denen gebührt
großer Dank.
Was sind aus Ihrer Sicht politische Eckpunkte eines guten
Integrationsprozesses?
Der erste Schritt ist immer, die Sprache des Gastlandes zu lernen.
Sprachkurse werden zwar angeboten, aber es ist alles nicht gut koordiniert
und ich befürchte, die Kurse bleiben zum größten Teil wirkungslos. Bei
Geldmangel werden sie sogar unterbrochen. In jedem Fall gehen die Gäste
nach dem Unterricht in ihre Unterkünfte und sprechen ihre Landessprachen.
Deswegen ist der zweite Schritt wichtig: Wir müssen Arbeit für unsere Gäste
finden, damit sie in einem umfassenden Sprachzusammenhang stehen, soll
heißen: sprechen und verstehen. In Dänemark und Schweden werden Flüchtlinge
in Arbeitspraktika vermittelt. Das ist sehr wichtig, auch um deren Alltag
zu strukturieren.
Was können Sie da machen?
Ich versuche in meinen Vorträgen in Betrieben, ein Bewusstsein dafür zu
schaffen, dass die Beschäftigung von Flüchtlingen ein großer Gewinn für die
Kommunikation im Betrieb und ein Plus für den sozialen Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft ist. Teilhabe an Bildung ist der Schlüssel. Wer
Integration verlangt, muss Geld in die Hand nehmen.
Aber es gibt ja nun wirklich auch Konflikte gerade wegen der kulturellen
Unterschiede.
Richtig. Aber schauen wir mal aufs Detail. Das Sozialamt Leer weist zwei
sich fremden afghanischen Familien mit Kindern eine kleine
Drei-Zimmer-Wohnung zu. Mal ehrlich, wie würde es ihnen gehen, mit sieben
Personen in einer kleinen Hucke leben zu müssen – ohne jegliche Hilfe?
Erster Fehler.
Nächster Fehler?
Nach islamischen Gewohnheiten darf sich ein fremder Mann mit einer fremden
Frau nicht allein in einem Raum befinden. Das muss man respektieren. Mal
angenommen, dann bekommen sich die Kinder beim Spielen in die Haare. Das
ist ganz normal. Die Kinder haben sich längst wieder vertragen, da rangeln
sich die Väter wegen des Kinderkrachs. Peng. Schlagzeile: Ausländer prügeln
sich. In Wirklichkeit steckt interkulturelle Inkompetenz der Behörde
dahinter.
Viele argumentieren, die Geflüchteten sollten doch zufrieden sein, wenn
ihnen nach der Flucht wenigstens ein Dach über dem Kopf angeboten wird.
Die meisten Menschen, die etwa aus Syrien zu uns kommen, sind hoch
traumatisiert und brauchen Hilfe. Bei uns im Café ist zum Beispiel ein
Mann, der so gut wie nicht gesprochen hat. Er war psychisch am Ende. Hilfe?
Fehlanzeige. Schließlich hat er sich in unserem Café-Garten eingerichtet,
gestaltet ihn und wird zum ersten Mal einfach nur ruhig. Er fühlt sich bei
uns wohl und sicher. Er pflanzt im Garten Gemüse an, wir kochen gemeinsam.
Punkt. Das ist ein sicherer Alltag.
Solche Programme müssen aber auch finanziert werden.
Ach ja? Ich glaube ja immer noch, dass Waffen mehr Geld kosten als soziale
Dienste. Wenn es keine Waffen gäbe, gäbe es keinen Krieg. Aber gerade wir
Deutschen stecken doch voll drin im Geschäft. Ehrlich, ich kann diese alten
Weisheiten bald selbst nicht mehr hören. Aber das waren und sind nun einmal
die Fakten.
Die Frage der Finanzierung bleibt aber. Wie machen Sie das?
Ich möchte nochmal erinnern: Die meiste Integrationsarbeit wird von
Ehrenamtlichen geleistet, deutschlandweit. Geld ist genug da, man muss es
nur sinnvoll einsetzen. Was meinen Sie, wie viele Hausbesitzer, nicht nur
in Leer, sich mit der Unterbringung von Flüchtlingen eine goldene Nase
verdienen, obwohl ihre Buden manchmal abbruchreif sind. Und das Geld, was
die Flüchtlinge angeblich kosten, fließt doch voll in unsere Wirtschaft,
die profitiert davon.
9 Jan 2017
## AUTOREN
Thomas Schumacher
## TAGS
Flüchtlinge
Migration
Ehrenamt
Integrationspolitik
Bundesrechnungshof
Schwerpunkt Flucht
Fußball
Schwerpunkt AfD
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