| # taz.de -- Hand in Hand mit Tunesien: Schuld zuweisen hilft nicht | |
| > Was kann die deutsche Gesellschaft tun, damit der sogenannte „Islamische | |
| > Staat“ sein Ziel nicht erreicht? Zwischenruf eines tunesischen | |
| > Staatsbürgers. | |
| Bild: Am Montag zeigten Demonstranten in Tunis: Auch Tunesier wollen keinen Ter… | |
| Ich habe in den letzten vier Jahren für eine internationale | |
| Entwicklungsorganisation in der arabischen Welt Projekte entwickelt. Dabei | |
| galt den Jugendlichen als Akteuren des Wandels stets besondere | |
| Aufmerksamkeit. | |
| Ich habe so die Realität von jungen Leuten im Nahen Osten besser | |
| kennengelernt, zuletzt besonders in Tunesien. Dort habe ich mitgewirkt, | |
| Jugendliche in den Vorstädten von Tunis zu stärken und ihr Abrutschen in | |
| den Radikalismus zu verhindern. | |
| Seit drei Monaten lebe ich in Berlin. Ich möchte gern einige Einsichten in | |
| gesellschaftliche und politische Realitäten der arabischen Welt und | |
| insbesondere Tunesiens vermitteln. | |
| Solche unterschiedlichen Perspektiven sind wichtig, um zu verstehen, welche | |
| Politik wir brauchen, um dem grenzüberschreitenden Terrorismus | |
| entgegenzuwirken. | |
| ## Es gibt keine „Nafris“ | |
| Tunesien ist in die deutschen Schlagzeilen geraten, weil der Urheber des | |
| Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt von dort stammt. Einige Medien | |
| haben betont, dass Tunesien immer wieder terroristische Attentäter erzeugt | |
| hat. Ich will das nicht nur als Tunesier kommentieren, sondern auch, weil | |
| die öffentliche Debatte, so wie sie verlief, die Lage längerfristig noch | |
| verschlimmern könnte. | |
| Ich wünschte, die richtigen Worte für die trauernden Familien der Opfer zu | |
| finden. Als Tunesier weiß ich, wie sich ein Land anfühlt, das an Festtagen | |
| mit solchen Nachrichten konfrontiert wird, wenn sich Angst mit | |
| Rachegelüsten und Hass vermischt. | |
| Einige Analysen sehen den Anschlag von Berlin, den der „Islamische Staat“ | |
| (IS) für sich beansprucht hat, als Rache für die Beteiligung Deutschlands | |
| an der Militärkoalition gegen den IS. Deutschland führt zwar selbst keine | |
| Luftschläge aus, aber das Parlament billigte die Entsendung von | |
| Aufklärungsflugzeugen, einer Fregatte, Tankflugzeugen und bis zu 1.200 | |
| Soldaten. | |
| Nach dem Attentat von Berlin bezeichneten Parteien der äußersten Rechten in | |
| ganz Europa die Einwanderung als Ursache. Zwar wurde die Verwendung des | |
| Begriffs „Nafri“ durch die Kölner Polizei als Beleg für die Praxis des | |
| Racial Profiling verschiedentlich verurteilt. | |
| In der breiten Öffentlichkeit herrschte aber eine andere Ansicht vor: Die | |
| Polizei habe nur ihren Job gemacht und Frauen vor massenhafter Belästigung | |
| bewahrt. | |
| ## Keine hellseherischen Übwerwachungstechniken | |
| Diese Sichtweise ist legitim, aber es gibt keine „Nafris“, sondern nur | |
| Marokkaner, Algerier, Tunesier, Libyer und Ägypter. Vor allem ist es nicht | |
| zielführend, Feiernde zu schützen, indem man Leute aufgrund ihrer Hautfarbe | |
| festsetzt. Viele der Einwanderer aus diesen Ländern sind durchaus | |
| hellhäutig und werden nicht gleich für Araber gehalten. | |
| Kurz gesagt: Die Sache mit „Nafri“ ist in meinen Augen solange sinnlos, wie | |
| es die hellseherischen Überwachungstechniken aus dem Science-Fiction-Film | |
| „Minority Reports“ nicht gibt. | |
| Die jüngste Polizeipraxis ist zum einen ineffizient und verstärkt zum | |
| anderen das Gefühl dieser Gruppen, gesellschaftlich ausgeschlossen zu | |
| werden. Daraus entsteht ein Nährboden für terroristische Bewegungen wie den | |
| IS. Dessen zweites Motiv ist, die Risse in der Gesellschaft über die | |
| Einwanderungsfrage zu vertiefen. | |
| In Tunesien sind zwischen 2011 und 2016 mehr als 200 Zivilisten und | |
| Sicherheitskräfte Opfer terroristischer Attentate geworden, weitere | |
| Hunderte wurden verletzt und traumatisiert. Mit großer Mühe entstehen im | |
| Land neue soziale und politische Strukturen, was in den zurückliegenden | |
| sechs Jahren allen Bürgern viel abverlangt hat. | |
| Dazu kommt die Zerschlagung des Sicherheitsapparats nach dem Sturz der | |
| Diktatur. Dies sind nur einige der Gründe, warum eine große Zahl junger | |
| Tunesier sich dem IS angeschlossen hat und einige zu den brutalsten und | |
| gefürchtetsten Kämpfern im Irak und in Syrien wurden. | |
| ## Enge Kooperation der Sicherheitsbehörden | |
| Der Anschlag in Berlin hat auch die tunesische Gesellschaft schockiert, | |
| denn Deutschland gilt als der aufrichtigste Verbündete und Unterstützer der | |
| jungen Demokratie. Es sorgt jedes Mal für Verzweiflung und Hilflosigkeit, | |
| wenn ein Tunesier irgendwo auf der Welt ein Attentat begeht, denn sie | |
| bleiben Tunesier, auch wenn sie dem „Islamischen Staat“ die Treue | |
| geschworen hatten. | |
| Was wir in dieser Situation brauchen, ist eine enge Kooperation der | |
| Sicherheitsbehörden. Aber auch die Medien müssen auf diskriminierende | |
| Beschreibungen und verallgemeinernde Schuldzuweisungen verzichten. Nur dann | |
| werden die gesellschaftlichen Brüche und Ausgrenzungen vermieden, die der | |
| IS mit seiner Strategie der Destabilisierung herbeiführen will. | |
| Ihm geht es vorgeblich um die Bekämpfung der Ungläubigen, aber eigentlich | |
| um die Schaffung einer Atmosphäre, in der „die Anderen“ Ängste auslösen,… | |
| der die Gesellschaft sich spaltet und die ausgegrenzten Minderheiten sich | |
| immer weiter entfremden. | |
| Sie geraten in eine Identitätskrise, in der sie sich weder Deutschland noch | |
| ihren Herkunftsländern zugehörig fühlen: das ideale Szenario für die | |
| Rekrutierer des IS. | |
| ## Mehr Partnerschaften | |
| Die Zivilgesellschaft kann entscheidend dazu beitragen, die Brüche | |
| innerhalb einer toleranten Gesellschaft zu kitten. Wir brauchen hier das | |
| Vorbild vieler sozial engagierter junger Leute aus Tunesien, um ein anderes | |
| gesellschaftliches Bild entstehen zu lassen. Wir brauchen mehr | |
| Partnerschaften und Kontakte zwischen der deutschen und der tunesischen | |
| Zivilgesellschaft und der tunesischen Exilgemeinde in Deutschland. | |
| Gerade im beginnenden Bundestagswahlkampf, in dem viel über Einwanderung | |
| debattiert werden wird, können mediale Darstellung und ziviles Engagement | |
| eine entscheidende Rolle spielen. Noch sind die positiven Auswirkungen auf | |
| den Arbeitsmarkt nicht zu spüren, die eine Million Immigranten bringen. | |
| Diese erfordern auch intensive Integrationsbemühungen und eine | |
| aufgeschlossene Öffentlichkeit. | |
| Deutschland steht an einem wichtigen Punkt seiner Entwicklung: Es kann der | |
| Welt beweisen, dass es seine Werte zu wahren wagt und eine starke und | |
| einige Gesellschaft für die nächsten Generationen aufbaut. | |
| Oder es kann einen Schritt zurück machen und wie seine Nachbarn, Frankreich | |
| in erster Linie, rechtspopulistischen und islamistischen Bewegungen neue | |
| Gelegenheiten zum Erstarken bieten. | |
| Aus dem Englischen: Stefan Schaaf | |
| 9 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Sadem Jebali | |
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