| # taz.de -- Flüchtlingsintegration in Sachsen-Anhalt: Joakin ist ein echter Ec… | |
| > Groß war die Aufregung in Eckartsberga, als die ersten Flüchtlinge kamen. | |
| > Die taz hat die kleine Stadt vor einem Jahr besucht – und nun erneut. | |
| Bild: Enesh Demeke Waldehawariyat, Mimi Werku Muluneh mit Sohn Joakin und Karin… | |
| Eckartsberga taz | Behutsam schneidet Genet Werku Muluneh den Stollen in | |
| fingerdicke Scheiben. Stollen, das wissen Einheimische, neigt zum Krümeln. | |
| Und die 25-Jährige weiß das inzwischen auch. „Letztes Jahr habe ich Mimi | |
| noch erzählt, was ein Stollen ist“, sagt Karina Rech und blickt zu ihr | |
| hinüber, die in der weinroten Küche steht, die Zöpfchen fest | |
| zusammengebunden. Alle nennen die Frau aus Eritrea hier Mimi. | |
| Auf Flipflops kommt sie über Laminat, das wie Wasser glänzt. Hier streift | |
| man freiwillig die Straßenschuhe ab. Eben hat das ein Freund aus der | |
| Gemeinschaftsunterkunft getan, bevor er sich in die Polster fallen ließ. | |
| Filimon Hayle soll auch ein Stück Stollen nehmen, bedeutet ihm Karina Rech, | |
| „traditioneller deutscher Kuchen“. Der zögert. „Kein Schwein?“ Geläch… | |
| zumindest bei den Deutschen. | |
| Mimi Muluneh blickt verständnisvoll. Ihr Ehemann, Tilhun Demeke | |
| Waldehawariyat – kurz Enesh genannt –, ist schon in den beigefarbenen | |
| Polstern versunken und hält Sohn Joakin im Arm, der mit zwei Zähnchen einen | |
| Beißring traktiert. Im Fernseher läuft Deutsche Welle, pausenlos | |
| Nachrichten, Panzer, Ruinen, gottlob ohne Ton – denn hier ist so etwas wie | |
| Weihnachtsruhe eingekehrt. Nach Jahren der Flucht. | |
| „Schmeckt gut!“ Filimon Hayle hebt seinen Wuschelkopf, deutet auf den | |
| Stollen und lobt die Rosinen. Die kenne er aus Asmara, der Hauptstadt | |
| Eritreas, wo er vor zwanzig Jahren geboren wurde. Am Tisch gießt Mimi | |
| Muluneh Kaffee nach und beginnt, von ihrer Odyssee zu erzählen, die sie von | |
| Ostafrika über Libyen hierher nach Eckartsberga ins südliche Sachsen-Anhalt | |
| geführt hat. | |
| ## 14 Tage durch die Sahara | |
| Im Nachbarland Sudan haben sie und Enesh geheiratet, erzählt Mimi Muluneh. | |
| Bald darauf ging es mit 33 anderen auf einem Pick-up durch die Sahara, | |
| erzählt die Eritreerin, die gut Deutsch versteht, aber lieber auf Englisch | |
| antwortet. Immer wieder hieß es warten, weil Grenzpatrouillen die | |
| Durchfahrt verhindern wollten. 14 Tage dauerte die Reise. „14 Tage? Wie | |
| hält man das aus?“, fragt Karina Rech entgeistert. Mimi Muluneh lächelt | |
| milde. Hitze am Tag, Kälte bei Nacht. Noch Kaffee? | |
| In Sicherheit waren sie in Bengasi, wo sie das Mittelmeer erreichten, | |
| nicht. „Six months in prison“, fährt Muluneh fort, sechs Monate Gefängnis | |
| wegen illegaler Einreise. Danach schlug sich das Paar nach Tripolis durch, | |
| wo Muluneh Arbeit fand. Irgendwann ging es über das Mittelmeer. 2015 kamen | |
| die beiden in Deutschland an. Wenig später brachte sie ein Bus nach | |
| Eckartsberga, in das Städtchen mit der tausendjährigen Eckartsburg. Wenn | |
| man durch das Fenster lugt, kann man den Bergfried sehen. | |
| „Das höre ich heute zum ersten Mal.“ Karina Rech ist baff. „Ich habe nic… | |
| gefragt. Die sind hierhergekommen, und es ging darum, Not zu lindern“, sagt | |
| sie. „I have a problem“ – so habe sich Mimi Muluneh in der | |
| Gemeinschaftsunterkunft an Karina Rech gewandt und erzählt, dass sie | |
| schwanger ist. Das war vor über einem Jahr. | |
| Karina Rech, Mutter, Physiotherapeutin und engagierte evangelische | |
| Christin, hat sich von Anfang an um Flüchtlinge gekümmert, hat Bekleidung | |
| gesammelt, war beim Café der Begegnung dabei, hat den Fremden zugelächelt, | |
| wenn es mit der Sprache nicht klappte – kurzum, sie wollte den Flüchtlingen | |
| das Gefühl geben, angenommen zu werden. | |
| ## Die Aufregung hat sich gelegt | |
| Das Städtchen hat sich schwergetan, als im Oktober 2014 die ersten | |
| Flüchtlinge kamen und den grauen Dreigeschosser, tristes Überbleibsel eines | |
| DDR-Kinderferienlagers, bezogen. Es gab eine Versammlung, auf der die | |
| Einwohner ihre Bedenken vortrugen. Die Gemeinde wollte gegen die | |
| Entscheidung des Landkreises klagen. Die Aufregung war groß. Sie hat sich | |
| wieder gelegt. Viele brachten Geschirr, Bekleidung, Fahrräder in die | |
| Gemeinschaftsunterkunft. Die Bürgermeisterin trennte sich von ihrem | |
| Heimtrainer. Und jetzt ist Joakin, kaum neun Monate alt, ein echter | |
| Eckartsbergaer. Jedenfalls fast. Geboren wurde er in Apolda, auf halbem | |
| Wege nach Weimar. | |
| Nicht jede Geschichte, die über Wüste und Wasser führt, ist so | |
| hoffnungsfroh. Ihr Bruder sei verschollen, erzählt Mimi Muluneh. Seine Spur | |
| verliert sich auf Malta. Karina Rech hat sich an das Rote Kreuz gewandt. | |
| Keine Hinweise. Und eine Idylle ist auch die Zweizimmerwohnung nicht. Und | |
| das liegt nicht nur am Schimmel, der sich an der Außenwand ausbreitet. Er | |
| ist so hartnäckig, dass er die Familie wieder wohnungslos machen könnte. | |
| Enesh Waldehawariyat ist aufgestanden. Er reicht Joakin vorsichtig an | |
| Karina Rech, die sich mit dem Jungen auf den Teppich setzt. Der 34-Jährige | |
| wirkt ein wenig verloren. Vielleicht liegt das daran, dass er sich weder | |
| auf Englisch noch auf Deutsch mitteilen kann. Seine Frau hingegen strahlt, | |
| bei aller Ungewissheit, etwas Unantastbares aus, wenn sie durch die Wohnung | |
| geht. Eigentlich ist die ganze Einrichtung, das meiste davon Spenden, ein | |
| Bollwerk gegen Unsicherheit: die Spülmaschine, der Plüschtiger, die | |
| Kunstblumen und der Glasschrank mit seinen Kelchen und Sektgläsern, | |
| symmetrisch angeordnet, als wollte das Kristall eine göttliche ewige | |
| Ordnung nachstellen. | |
| Doch unter dem Arrangement lauert das Chaos. Mimi Muluneh holt aus einer | |
| Schublade voller Papiere zwei Dokumente heraus. „Aufenthaltsgestattung zur | |
| Durchführung eines Asylverfahrens“ steht dort gedruckt, Stempel und | |
| Bundesadler, eingeklebte amtliche Genehmigungen, gültig bis zum 31. 12. | |
| 2016. Die Papiere der beiden. Gewiss werden sie vom Ausländeramt des | |
| Burgenlandkreises verlängert. Sesshaft wird man so aber nicht. | |
| ## Bleiben oder weiterziehen? | |
| Wollen sie denn in Eckartsberga bleiben? Sicher, die beiden, | |
| altorientalische Christen, planen Joakins Taufe in der Stadtkirche für | |
| nächsten Sommer. Sonntags besuchen sie den evangelischen Gottesdienst, und | |
| Enesh Waldehawariyat würde gern, nach Absolvierung eines Sprachkurses, in | |
| einer Autowerkstatt arbeiten. Ein Job für seine Frau dürfte sich auch | |
| finden lassen. Plötzlich aber wirkt auch sie verunsichert. „In Eckartsberga | |
| they like me“, sagt sie. Karina Rech ahnt, wie es in ihr arbeitet. Alle | |
| Flüchtlinge aus der Gemeinschaftsunterkunft sind, sobald sie ihre | |
| Anerkennung haben, fort, erzählt sie, nach Ingolstadt, Düsseldorf, Berlin. | |
| Mimi Muluneh schaut sich um. Durchquert man Länder und Kontinente, um die | |
| Zukunft in einem Anbau mit mintgrüner Fassade und angedeutetem Fachwerk zu | |
| planen? Der Fernseher zeigt immer noch Szenen aus Aleppo und dem Irak. Dann | |
| spannt sich die Landkarte Ostafrikas über den Bildschirm – das Horn von | |
| Afrika, das Rote Meer und Eritrea. Enesh Waldehawariyat blickt nur kurz | |
| dorthin und wendet sich ab. Als würde ihn nichts mehr mit der alten Heimat | |
| verbinden. | |
| Vermutlich hat die kleine Familie gar keine andere Wahl, als in der | |
| „Toskana des Nordens“ zu bleiben. So nennen Touristiker die sanfte | |
| Landschaft mit Burgen und Weinstöcken. Ab Mitte Januar soll in | |
| Sachsen-Anhalt eine Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge gelten. Ein | |
| Bagger zermalmt den Dreigeschosser, der sich vor der | |
| Gemeinschaftsunterkunft erhob. Sollte noch einer im Ort befürchtet haben, | |
| dass auch hier Flüchtlinge einziehen – der Greifarm zerstreut diese Angst. | |
| ## „Ein bescheuertes Wort“ | |
| Man könnte aber auch Rudi Gollmann fragen. „Wir sind mit der Problematik | |
| nicht unzufrieden“, sagt Gollmann im Büro der Gemeinschaftsunterkunft und | |
| lehnt sich zurück. „ ‚Problematik‘! Was für ein bescheuertes Wort“, | |
| korrigiert sich der 54-Jährige sofort. „Thematik“, sagt er und wiederholt | |
| das Wort. Gollmann leitet die Ausländerbehörde des Landkreisamts. Er war | |
| derjenige, der in den letzten Jahren wie ein Quartiermeister eine | |
| Flüchtlingsunterkunft nach der anderen aushob. Der Widerstand war groß. In | |
| der Gemeinde Tröglitz brannte ein Haus. Jetzt hat sich die „Problematik“ | |
| auch semantisch entschärft. | |
| 18 Unterkünfte hat Gollmann eröffnet, jetzt schließt er die ersten. In | |
| Eckartsberga wohnen 45 Asylsuchende, vor einem Jahr waren es über 60. Die | |
| „Zuweisungszahlen“ sind rapide gesunken, fährt Gollmann fort. Auch der neue | |
| Heimleiter, ein Mann mit hoher Stirn und freundlichen Augen, strahlt eine | |
| große Portion Optimismus aus. Beim Gang durch die Unterkunft fallen Worte | |
| wie „familiär“ und „Nestgefühl“. Auch wenn sie sich langsam abnabeln,… | |
| Muluneh und ihre Familie gehörten weiterhin zu seinem „Betreuungsbereich“. | |
| Rudi Gollmann spitzt die Ohren. Er wohnt in Eckartsberga und hätte wohl | |
| nichts dagegen, wenn zumindest einige seiner „Zuweisungen“ hierblieben. | |
| Eigentlich ist Eckartsberga für Kleinfamilien ideal. Eine Kita, eine | |
| Grundschule, zwei Kaufhallen. Jobs könnte die Fabrik für Thüringer Klöße | |
| bieten. Der Heimleiter öffnet ein Zimmer, Kühlschrank, TV, zwei | |
| Eisenbetten, ein Bettchen aus Holz. Morgen kommen neue Bewohner, berichtet | |
| er. Drei Flüchtlinge aus Eritrea – Vater, Mutter und Kind. | |
| 26 Dec 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
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