| # taz.de -- Linker Buchhandel in der BRD der 70er: Verschwundene Ermittlungsakt… | |
| > Uwe Sonnenbergs Studie „Von Marx zum Maulwurf“ liegt eine Dissertation | |
| > zugrunde. Die Geschichte des Verbands linker Buchläden ist ein Stück | |
| > Aufklärung. | |
| Bild: Demo in Göttingen nach der Durchsuchung mehrerer Räume im Zuge der Ermi… | |
| Es gibt noch Überraschungen im Sachbuchwesen – und in diesem Fall gleich | |
| dreifach. Dissertationen können lesbar und lesenswert sein auch für Leser | |
| außerhalb des akademischen Betriebs. Und Dissertationen können von Themen | |
| handeln, die sich spröde anhören, in diesem Fall: „Linker Buchhandel in | |
| Westdeutschland in den 1970er Jahren“, aber es überhaupt nicht sind. Und | |
| die dritte und größte Überraschung: Der Autor des Buches ist Uwe | |
| Sonnenberg, ein sehr junger Historiker aus Ostdeutschland, der den alten | |
| Westlinken mit gehöriger Distanz gegenübersteht, aber mit stupender | |
| Detailkenntnis spannend beschreiben und fundiert analysieren kann. | |
| Der linke Buchhandel entwickelte sich, als sich die Neue Linke ausbildete, | |
| die sich mit der Wiederbewaffnung, der sozialen und ökonomischen | |
| Restauration, dem Antikommunismus als Staatsreligion und der Verdrängung | |
| der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht abfand. Die Neue Linke | |
| hatte ihre Wurzeln in außerparlamentarischen sozialen Bewegungen wie der | |
| Friedensbewegung, aber auch in Gruppen und Personen am linken Rand der SPD | |
| und bei oppositionellen Gewerkschaftern und kritischen Christen. Verkürzt | |
| gesagt ist die Neue oder „ausgebürgerte Linke“ (Sebastian Scheerer) ein | |
| Produkt aus KPD-Verbot, CDU-Staat, den Marschwilligen in der SPD nach | |
| Godesberg, der Opposition gegen die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn | |
| 1956 und der Kriege der USA in Korea und Vietnam. | |
| Der 1961 aus der SPD „ausgebürgerte“ Sozialistische Deutsche Studentenbund | |
| (SDS) und sein 1965 gegründeter Verlag Neue Kritik wollten sozialistische | |
| Schriften, die durch Nazi-Zeit und Krieg in Vergessenheit geraten waren, zu | |
| Schulungszwecken wieder zugänglich machen. Im Verlag Neue Kritik gründete | |
| der SDS deshalb das „Archiv sozialistischer Literatur“. Dessen erster Band | |
| war Rosa Luxemburgs „Akkumulation des Kapitals“ von 1913. | |
| Ermöglicht wurde der Nachdruck durch die billige und relativ einfache | |
| Offset-Drucktechnik. Die 300 Exemplare wurden über die Unigruppen des SDS | |
| vertrieben. Nach wenigen Büchern gab der SDS seine Hobbydruckerei auf. | |
| Hinweise auf geeignete Druckvorlagen gaben sozialistische Gewerkschafter | |
| und Wissenschaftler wie Jakob Moneta, Fritz Lamm, Viktor Agartz, Wolfgang | |
| Abendroth und andere, vor allem aber der umtriebige linke Buchhändler Theo | |
| Pinkus aus Zürich. Andere Verlage wie Trikont druckten Texte zum | |
| Antikolonialismus, zu den Befreiungsbewegungen in Afrika, zu Che Guevara | |
| und zum Rassismus in den USA. | |
| Dass es dank der beginnenden Studentenbewegung einen „Markt für Marx“ gab, | |
| merkten schnell auch kommerzielle Verlage – allen voran die EVA, | |
| Luchterhand, Rowohlt und Suhrkamp. Im Namen von „Gegenöffentlichkeit“ | |
| schlossen sich linke Lektoren und Autoren als „Literaturproduzenten“ zu | |
| einer offenen Vereinigung zusammen – im Namen von Demokratisierung, | |
| Mitbestimmung und Sozialisierung der Verlage. Bei Suhrkamp löste die | |
| Forderung nach einer demokratischen Lektoratsverfassung eine Krise aus. Im | |
| Laufe des Jahres 1968 entstanden erste linke Buchläden in fast allen | |
| Universitätsstädten und ein Jahr später waren bereits 100 Raubdrucke von 30 | |
| bis 40 Untergrunddruckern lieferbar. Diese verstanden ihre Produkte als | |
| „sozialisierte Drucke“. | |
| ## Gewinn an linke Projekte abführen | |
| Mit dem Zerfall der Studentenbewegung stellte sich für die linke Buchladen- | |
| und Raubdruckerszene die Frage der Koordination und Organisation, denn es | |
| drohte eine Kannibalisierung. Westberliner Buchladenkollektive ergriffen | |
| 1970 die Initiative zur Gründung des „Verbandes des linken Buchhandels“ | |
| (VLB). Der Verband verstand sich als Dienstleister des linken Buchhandels. | |
| Die Mitglieder verpflichteten sich, Gewinne aus dem Handel mit Büchern und | |
| Raubdrucken an politische Projekte abzuführen. Der Verband gewann bis 1977 | |
| rund 200 Mitglieder mit 3.000 Beschäftigten. | |
| Unmittelbar nach der Gründung geriet der VLB allerdings in eine schwere | |
| Krise, weil marxistisch-leninistische Grüppchen, die sich als Parteien | |
| drapierten, die Buchläden als „ihre“ Parteibuchläden instrumentalisieren | |
| und das Sortiment auf ihren leninistisch-stalinistisch-maoistischen | |
| Horizont reduzieren wollten. Mit knapper Not gelang es Linkssozialisten und | |
| Spontis, die Übernahme des VLB durch die peinlichen Führungsfiguren des | |
| Campus-Kommunismus abzuwehren. Der KBW etwa war stolz auf seine 1973 | |
| gegründeten 25 Buchläden. Der Stolz wich schnell der hybriden Strategie, | |
| „mit Mao […] in die Massen“ zu gehen. Im September 1974 machte der KBW | |
| seine Buchläden dicht und ersetzte sie durch, die Namen lassen aufhorchen, | |
| lokale „Literatur-Obmänner“ beziehungsweise Ideologie-Blockwarte, die der | |
| KBW-Gefolgschaft das Standardlesefutter vorkauten. | |
| Oskar Negts im Sozialistischen Büro (SB) entwickeltes Konzept: „Nicht nach | |
| Köpfen, sondern nach Interessen organisieren“, verabschiedete das | |
| Avantgardegetue der K-Gruppen. Der politische Einfluss des Konzepts auf die | |
| Arbeit des VLB ist schwer auszumachen, aber nach den Quellen, die | |
| Sonnenberg ausgewertet hat, unbestreitbar. Meino Büning (1936–2003) etwa – | |
| zuerst beim „Express international“, dann bei der Karl-Marx-Buchhandlung in | |
| Frankfurt und von 1979 bis 1991 bei der taz tätig – war einer der wichtigen | |
| Exponenten des VLB. Seine Charakterisierung des Verbands als „Institution | |
| der rebellischen Intelligenz“ und nicht als verblendete Agentur der | |
| „proletarischen Avantgarde“ stand dem Selbstverständnis der | |
| Linkssozialisten vom SB nahe. | |
| ## Das BKA ermittelte | |
| Bundesweite politische Bedeutung bekam der VLB als loses Netzwerk „von | |
| einzigartigem Charakter“ (Sonnenberg) 1976/77. Der Börsenverein des | |
| deutschen Buchhandels beschäftigte sich zwischen 1969 und 1978 nicht | |
| weniger als 42 Mal mit dem Problem von Raubdrucken. Der Börsenverein | |
| brachte das Innenministerium dazu, dass das Bundeskriminalamt (BKA) gegen | |
| Raubdrucker ermittelte – nicht etwa wegen Urheberrechtsvergehen, sondern | |
| wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB. | |
| Hauptbetroffene waren Buchläden und Buchhändler. Von einer ganz großen | |
| Koalition wurden neue Gesetze zur Inneren Sicherheit verabschiedet (16. 1. | |
| 1976). 1981 wurde die Gesetzesverschärfung (§§ 88a und 130a StGB) wieder | |
| rückgängig gemacht. Das BKA präsentierte nie Belege dafür, dass der VLB | |
| Raubdrucke gefördert hat. Die Ermittlungsakten sind inzwischen | |
| verschwunden. | |
| Mit solchen präzisen Informationen wartet das Buch auf Schritt und Tritt | |
| auf. Ein ganz starkes Stück Aufklärung. | |
| 17 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
| ## TAGS | |
| Buchhandel | |
| APO | |
| BRD | |
| Hamburg | |
| Buchhandel | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Kapitalismuskritik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gastgeber über neuen Roten Salon Hamburg: „Marxismus und Club-Musik“ | |
| Reden über linke Politik (und gleich noch ein paar Verlagen helfen): | |
| Mit-Gastgeber Michael Hopp über den erstmals eröffnenden „Roten Salon | |
| Hamburg“. | |
| Frauenbuchhandlung in Berlin: Frau hat was zu sagen | |
| In Neukölln will Emilia von Senger „She said“ eröffnen: Eine Buchhandlung, | |
| die nur Werke von weiblichen und queeren Autor*innen führt. | |
| Unabhängiger Buchhandel: Die Welt hinter den Buchstaben | |
| Kleine unabhängige Buchhandlungen dürfte es nach den Marktgesetzen nicht | |
| mehr geben. Doch es gibt Händler, die behaupten sich trotzdem. | |
| Linker Kongress zu digitalem Kapitalismus in Hamburg: „Mut haben, die Zukunft… | |
| Das „Ums Ganze!“-Bündnis diskutiert in Hamburg über Digitalisierung und | |
| Kapitalismus | |
| Auf den Spuren der Gegenkultur: Vergilbte Geschichte von unten | |
| Im Archiv der sozialen Bewegungen lagern Tausende linke Bücher, | |
| Flugblätter, Videos. Eine Sammlung, für die sich mittlerweile selbst das | |
| Übersee-Museum interessiert. | |
| Verlags-Vertreterin Heckel über linke Buchläden: "Die linke Szene ist geschru… | |
| Ihre abgeschabten Sessel waren Orte der der politischen Sozialisation. Doch | |
| wie lange wird es die linken Buchläden noch geben? Mehr in der | |
| taz.am.wochenende. |