| # taz.de -- Verdrängung in Berlin-Wedding: Berliner Mischung, adieu! | |
| > Die Gerichtshöfe sind eines der größten Atelierhäuser des Landes. Doch | |
| > daraus sollen Wohnungen für Studis werden. Am Donnerstag diskutiert das | |
| > Bezirksparlament darüber. | |
| Bild: Blick in die Gerichtshöfe | |
| Vorne Wohnungen, hinten Gewerbe und Ateliers: Die Gerichtshöfe im Wedding | |
| verkörpern die typische Berliner Mischung, mit der um die vorletzte | |
| Jahrhundertwende Wohnen und Arbeiten eine einzigartige Symbiose erfuhren. | |
| Hinter den 81 Wohnungen in den Vorderhäusern an der Wiesen- und | |
| Gerichtstraße backt eine Bäckerei Kekse, werden Autos zusammengeschraubt, | |
| Tischler fertigen Möbel. Dazwischen liegen eine Menge Ateliers von | |
| internationalen Künstlern. | |
| Aber schon Ende kommenden Jahres soll Schluss sein mit dieser bunten | |
| Gemengelage: Die Vermieterin, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft | |
| Gesobau, will das Areal mit seinen vier Höfen und acht Aufgängen | |
| „entwickeln“. Die Altmieter sollen die Gewerbehöfe verlassen, dann wird | |
| durchsaniert, und am Ende ist neben 150 neuen Studentenwohnungen auch noch | |
| Platz für einige Künstler und Gewerbetreibende. Natürlich nicht für alle. | |
| Wer weiter dabei sein kann, ist fraglich, denn die meisten Gewerbemieter | |
| haben nur noch bis Ende 2017 einen Vertrag. Zum Beispiel Geigenbaumeister | |
| Andreas Kägi: Seit über zwölf Jahren baut und repariert er hier | |
| Instrumente, seine Kundschaft speist sich aus allen bedeutenden Orchestern | |
| der Stadt. „Ich habe immer gedacht, hier würde ich mit den Füßen voran | |
| herausgetragen, aber jetzt trägt mich wohl die Polizei. Ich habe nämlich | |
| nicht vor zu gehen“, erklärt der 68-Jährige trotzig. | |
| Er versteht nicht, weshalb die Höfe saniert werden müssen, und weist auf | |
| die Thermopen-Fenster, die dicken Mauern und den Boden, der 10 Tonnen | |
| Belastung aushalte. „Das ist hier durch und durch für Gewerbe gebaut | |
| worden, was sollen hier auf einmal Studentenwohnungen?“, fragt er. | |
| Birte Jessen von der Gesobau spricht auf Nachfrage von haustechnischen | |
| Defiziten. Derzeit werde geprüft, ob von der Ölheizung auf Fernwärme | |
| umgestellt werden kann. Dagegen haben Kägi und seine Nachbarn nichts, auch | |
| die damit verbundene Mieterhöhung würden sie akzeptieren. Das Vorhaben der | |
| totalen Entmietung und völlig neuen Nutzung bringt sie jedoch auf die | |
| Barrikaden. | |
| ## Ateliers mit schlechtem Licht | |
| Birgit Bayer-Weiland, Vorsitzende des Vereins „Kunst in den Gerichtshöfen“, | |
| der die neuen Grundrisse vorliegen, versteht nicht, weshalb bei der | |
| Sanierung, die auch in ihren Augen überflüssig ist, nicht gemeinsam mit den | |
| Mietern geplant wurde. „Die Ateliers, die neu entstehen, haben keine guten | |
| Lichtverhältnisse und keinen Wasseranschluss, sie sollen auch viel kleiner | |
| werden“, beklagt ihre Kollegin Andrea Wallgren. „Wir sind eines der größt… | |
| Atelierhäuser Deutschlands, das würde mit einem Schlag vernichtet.“ Beide | |
| Künstlerinnen betonen, dass das Verhältnis zwischen Gesobau und Mietern in | |
| der Vergangenheit äußerst fair gewesen sei. Daher sei das Unverständnis | |
| jetzt umso größer. | |
| Die Gesobau reicht den Schwarzen Peter weiter: Sprecherin Birte Jessen | |
| verweist darauf, dass die landeseigenen Wohnungsunternehmen verpflichtet | |
| seien, bis 2026 rund 100.000 neue Wohnungen zu schaffen. Auch Studenten | |
| müssen berücksichtigt werden, weshalb die Gesobau sämtliche verfügbaren | |
| Flächen und Objekte darauf prüfe, ob sie sich für studentisches Wohnen | |
| eignen. | |
| „Das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie hat gezeigt, dass der Standort | |
| Gerichtshöfe sich ausgezeichnet für studentisches Wohnen und kreatives | |
| Arbeiten eignet“, so Jessen. Geigenbauer Andreas Kägi bezweifelt, dass | |
| Studenten sich hier wohlfühlen würden. Lange Gänge als Fluchtwege, | |
| Gemeinschaftsküchen und -toiletten seien geplant. „Ob das junge Leute gut | |
| finden?“, fragt er sich. | |
| Derzeit geben die Höfe 11 Gewerbetreibenden mit rund 100 Arbeitsplätzen | |
| sowie etwa 70 Künstlern ein Dach über dem Kopf. Sollte die Gesobau ihre | |
| Pläne verwirklichen, würde sich der Kiez durch die Abwanderung der jetzigen | |
| Mieter stark verändern. Dazu hat schon der Abriss des alten Stadtbads | |
| Wedding beigetragen, das zuletzt als Kultur- und Club-Location „Stattbad“ | |
| überregionale Bekanntheit genoss. Auf dem Areal direkt gegenüber den | |
| Gerichtshöfen sollen ebenfalls Studentenwohnungen entstehen, allerdings im | |
| Sinne einer Kapitalanlage eines privaten Bauherrn. | |
| Der Investor, die Lambert Unternehmensgruppe, wirbt auf seiner Homepage mit | |
| dem großen Renditepotenzial der „Sachwertanlage Studenten-Apartment“. | |
| Mieten um die 20 Euro pro Quadratmeter werden mit diesen sogenannten | |
| Mikro-Apartments erzielt. Bei Lambert ist die Immobilie unter dem Namen | |
| „Studio:B II“ bereits im Portfolio. Als Verkaufsargument wird unter anderem | |
| der Tagesspiegel zitiert: „Allein nach Berlin kommen jedes Jahr 30.000 | |
| Menschen unter 30. Investments in diese Zielgruppe sind […] besonders | |
| lukrativ.“ | |
| ## Kapriolen des Kapitalmarkts | |
| Dass hier erst 2015, kurz vor der Schließung des Stattbads, 40.000 Euro aus | |
| Mitteln des Quartiersmanagements für Sport und Spielangebote auf den | |
| Außenflächen verbaut wurden (die jetzt Bauschutt sind), ist noch eine der | |
| kleineren Kapriolen, die der Kapitalmarkt hier schlägt. Die Tatsache, dass | |
| das Areal 2009 vom Liegenschaftsfonds Berlin für 270.000 Euro verscherbelt | |
| wurde, dieses Jahr beim Verkauf aber über 5 Millionen Euro erzielt hat, | |
| zeigt, wie der Wedding als direkter Nachbar des Regierungsviertels derzeit | |
| in der Immobilienbranche gehypt wird. | |
| „Die Stadt hat es in der Hand, ob sie das Besondere in Berlin erhalten | |
| will“, fasst Künstlerin Bayer-Weiland die Entwicklung im Wedding zusammen. | |
| Erst kürzlich habe der Regierende Bürgermeister Michael Müller gesagt, | |
| Kunst und Kultur seien die Säulen der Stadt. Die Gerichtshöfe gehören in | |
| ihren Augen dazu. | |
| Laut Ephraim Gothe, dem neuen SPD-Stadtrat für Stadtentwicklung im | |
| Bezirksamt Mitte, wird der Bau von Studentenapartments auf der Sitzung der | |
| Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am heutigen Donnerstag ein großes Thema | |
| sein. Er selbst will sich für den Verbleib der Gewerbetreibenden in den | |
| Gerichtshöfen einsetzen. | |
| 17 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Christine Berger | |
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