Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Wedding ist Wedding
> Erst kamen die Künstler, dann die Galerien, die schicken Läden. Dann
> wurden die Wohnungen teurer. Doch so schnell geht der Stadtteil Wedding
> nicht verloren.
Bild: Sylvain Perier hat sein Atelier im Stattbad Wedding. Kunst gehöre raus a…
BERLIN taz | Jürgen Reichert, ein großer, schlanker Mann mit grau meliertem
Haar und bunt bespritztem Pullover, steht in seinem Atelier und dreht sich
einmal um die eigene Achse. Es ist ein weiter Raum mit ganzer Fensterfront,
in dem es ebenso hell zu sein scheint wie draußen an diesem sonnigen
Frühlingstag. Die Bilder von Jürgen Reichert, die hier überall hängen: Da
drängen sich pinselbreite Balken, Felder und Flecken, helles Rot über
kräftigem Gelb, gleißend helles Grün neben grellem Violett.
Diese Bilder strahlen, als würden sie von hinten durchleuchtet. Und während
sich Jürgen Reichert in die Gummihandschuhe zwängt und die giftigen
Metalle, die teuren Pigmente aus Cadmium und Chrom, anrührt, versteht man
auf einmal, warum er diesen Raum so unbedingt braucht.
Ja, da ist diese Ruhe, die Abgeschiedenheit, der industrielle Charme, der
„Werkstattcharakter“, wie Jürgen Reichert meint.
Da ist auch die Raumhöhe, die es erlaubt, große Bilder hoch genug zu
hängen, damit der Künstler sie auch im unteren Viertel auf Augenhöhe
bemalen kann.
Vor allem aber: Da ist das Tageslicht, das man braucht, um derart leichte,
helle, ja heitere Bilder zu produzieren. Bilder wie die von Jürgen Reichert
– oder auch Bilder wie die sommerlichen Impressionen von Meer, Landschaft
oder Garten von Ulrike Hansen, seiner zehn Jahre jüngeren Kollegin, die ihm
gerade beim Mischen der Farben über die Schulter schaut und die linke
Augenbraue leicht hebt.
## Unschlagbare Miete
Jürgen Reichert und Ulrike Hansen: sie teilen sich das Atelier in den
Gerichtshöfen im ehemaligen Arbeiterbezirk Wedding. Er arbeitet seit
dreißig Jahren hier, sie seit zehn. „Es könnte traumhafter nicht sein“,
sagt Ulrike Hansen mit ausladender Handbewegung. Das gemeinsame Atelier
besteht aus vier Räumen auf 250 Quadratmetern. Dafür zahlen sie 1.250 Euro
komplett. Ein unschlagbarer Preis in Berlin – in einer Stadt, die mit ihren
Künstlern wirbt. Weil es nicht nur vom touristischen Standpunkt aus
betrachtet das Beste ist, was sie zu bieten hat. Einer Stadt aber auch, in
der die Wohnungen immer teurer werden, die bezahlbaren Ateliers immer
rarer.
Auch die komfortable Situation, in der sich Jürgen Reichert und Ulrike
Hansen derzeit befinden: es könnte bald vorbei sein damit. Denn in den
Gerichtshöfen laufen die Mietverträge der circa 70 ansässigen Künstler aus.
Und die Vermieterin, die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gesobau, gibt
sich schwammig. Von einem „langfristig sanierungsbedürftigen Zustand“ ist
die Rede, auch davon, dass man „vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen
über Wohnungsknappheit“ „Flexibilität bewahren“ müsse.
Jürgen Reichert muss grinsen, als er die Formulierungen der Gesobau
zitiert. Natürlich weiß er, wie sich sein Kiez verändert hat. Er war gerade
Anfang dreißig, als er 1984 die Gerichtshöfe entdeckte. Während er die
Werkstatt gegenüber von seinem Atelier zeigt, in der er Rahmen baut, Bilder
aufspannt und Beitel schleift, wo kleine Druckpressen und Schneidemaschinen
für Rahmen stehen und viele, viele Bilder lagern, erzählt er, wie es hier
aussah damals.
## Die U-Bahn fuhr durch
„Die Elektrik war zerstört“, sagt er, „die Fenster waren mies, und es wa…
Tauben drin.“ Er wusste nicht, wie er die angemieteten 330 Quadratmeter
nutzen sollte. „Die Dampfheizung heizte nur in Schüben – und der letzte
Schub kam um 4 Uhr nachmittags. Abends rutschte die Temperatur unter 10
Grad“, sagt er und lächelt versonnen. Es war die Zeit, als die U-Bahn aus
Kreuzberg nicht hielt im heutigen Galerienviertel Mitte. Der Wedding fühlte
sich an wie das Ende der Welt. Er mochte dieses Wedding, er mag es auch
noch heute, mitsamt seinen Sozialfällen, seinen Spielhöllen, seiner
„Unaufgeregtheit“.
Doch wie lange wird es noch gut gehen mit dieser Unaufgeregtheit? Das
Zentrum rückt immer näher. Kaum 15 Gehminuten entfernt entsteht derzeit das
neue Gebäude für den Bundesnachrichtendienst. Auf der Chausseestraße, der
Verlängerung der Berliner Friedrichstraße, kriechen die Cafés, Bars und
Restaurants mit den interessanten Namen, Möbeln und Preisen immer näher.
Und Ecke Liesenstraße entstehen Wohnanlage für 1.000 Betuchte – in den
Townhouses „The Garden“ kostet der Quadratmeter fast 4.500 Euro, inklusive
„Kinderlachen und Vogelgezwitscher“, „128.400 Blütenpflanzen pro Sommer�…
Concierge, E-Bikes, Guest Apartments und Kids-Club.
Doch das ist die Zukunft. An diesem hellen Frühlingstag ist noch alles in
Ordnung in der Gerichtstraße in Wedding. Es geht raus aus den Ateliers,
vorbei an Wohnkartons aus den Siebzigern, an Micki’s Haarstudio, am
Nageldesignstudio American Style, an der Bierkneipe Zum Klammeraffen. Vor
dem Zeitschriftenladen unterhalten sich zwei Männer mit abgeschabten
Kunstlederjacken, vor ihnen stehen drei Fläschchen Kleiner Feigling. Zwei
junge Frauen mit kobaltblauen Kopftüchern und giftgrünem Lidschatten
schieben Buggys vorbei.
## Bei Studenten beliebt
Dazwischen sind immer wieder junge Leute unterwegs. Der Wedding ist beliebt
unter Studenten, denn noch sind die Mieten erschwinglich. Vielleicht sind
sie unterwegs zum ExRotaprint oder zu den Uferhallen – zwei der drei neuen
Kulturleuchttürme, die die Gegend aufwerten. Ein Paar Mitte zwanzig, beide
studieren Stadtplanung, will zum dritten Leuchtturm, zum „Stattbad Wedding“
schräg gegenüber von den Gerichtshöfen.
Das Stattbad Wedding ist ein Bau im schlichten Stil der Fünfziger, ein
altes Schwimmbad, das stillgelegt wurde und 2009 zum Eventraum für
zeitgenössische Kunst wurde – vor allem für Künstler aus der
Urban-Art-Szene. Direkt neben dem Eingang zum Café hängt ein langes Poster
mit seltsamen roten Lettern. Da steht: „Vive La
Democraticodictatorialophobie – Yes!“ Sylvain Perier, der es entworfen hat,
muss jedes Mal laut gackern, wenn er es vorliest. Der französische Künstler
mit den fusseligen Haaren und der Schraubenmutter im Ohrläppchen war Ende
der Achtziger viel in der Pariser Hausbesetzerszene unterwegs. Seit Anfang
der Neunziger lebt und arbeitet er in Berlin. „Berlin war ein Symbol für
Freiheit“, sagt er, „es war wie ein Paradies.“ Und jetzt?
Sylvain Perier schließt eine alte Eisengittertür auf, geht voran zu den
ehemaligen Umkleidekabinen. Seit drei Jahren hat er sein Atelier im
Stattbad Wedding, neben dreißig weiteren Künstlern. Seins befindet sich in
einem der ehemaligen Duschräume. Die Deckenverkleidung fehlt, man schaut
direkt ins enge Geflecht von Rohren und Kabeln, die wohl unter die Decken
eines Schwimmbads gehören. Tageslicht? Fehlanzeige. Dafür strahlt der
kleine, völlig vollgestellte und -gemalte Raum viel von dem aus, was Berlin
in den Neunzigern ausmachte: einfach machen. Egal, ob man es kann. Und wenn
es nur vorübergehend ist.
Sylvain Perier, der unter dem Kunstnamen SP38 bekannt ist, hat eine eigene
Schriftform entwickelt. Sie erinnert ein wenig an Runen, wirkt auch ein
bisschen wie ein Bastard aus geschriebener und gedruckter Schrift. Dazu
arbeitet Perier mit altbekannten Symbolen und Piktogrammen: einem Kaninchen
zum Beispiel. Und einem Flugzeug. Er benutzt immer drei oder vier Jahre
dieselben vier, fünf Symbole, dann sucht er sich neue. Das Wichtige ist:
Die Symbole sollen etwas beliebig wirken, ein bisschen dahergelaufen.
Jeder, der sie sieht, soll eine eigene Geschichte zu ihnen erzählen können.
## „Kunst gehört raus“
Sylvain Perier ist es nicht so wichtig, dass er sich in seinem Atelier
bewegen kann, dass er seine Ruhe hat. Viel wichtiger ist ihm, wie seine
Kunst entsteht. Seine Poster müssen zuerst vervielfältigt und dann überall
in der Stadt plakatiert werden. Der Dialog mit zufälligen Passanten, die
Unwägbarkeiten der Witterung, die Gefahr, mit Ordnungshütern
aneinanderzugeraten: „Kunst gehört raus“, sagt er und gibt im selben
Atemzug zu, dass er mit seiner Kunst wohl kaum reich werden wird, dass er
damit gerade so überlebt.
Sylvain Perier ist nicht viel jünger als Jürgen Reichert und Ulrike Hansen.
Und doch verkörpert er eine neue Generation, einen neuen Stil. Er arbeitet
nicht im stillen Kämmerlein. Vielmehr gestaltet er den Ort, an dem er
wirkt. Und doch weiß er, dass es nicht die Künstler sind, auch nicht die,
die viel nach draußen gehen, die den Wedding verändern werden. „Wedding ist
Wedding“, sagt er mit seinem charmanten französischen Akzent.
Was er sagen will: In Wedding wird sich das Milieu nicht so rasant
umkrempeln lassen wie in den benachbarten östlichen Stadtteilen Mitte oder
Prenzlauer Berg kurz nach der Wende. Es ist in letzter Zeit immer öfter
vorgekommen, dass Leute ihren Protest organisieren. Mal sind es die
Nachbarn, die von Verdrängung bedroht sind. Mal ist es ein Stück der East
Side Gallery, das für einen Luxuswohnturm weichen soll. Sylvain Perier hat
miterlebt, wie sich sein Berlin in den letzten zwanzig Jahren verändert
hat. Er weiß aber auch, wie seine Berliner aufmucken, wenn es ihnen ans
Leder geht. Wohnviertel, die auf ihren Homepages mit E-Bikes und Concierges
werben, haben es schwer in Berlin.
Vor dem Stattbad Wedding ist es Abend geworden, die Amseln singen um die
Wette. Ein alter Mann mit Schirmmütze schlurft vorbei. Auf der Höhe des
Posters von Sylvain Perier bleibt er stehen. Er liest es, runzelt die
Stirn. Dann zuckt er mit den Schultern und schlurft weiter.
30 Mar 2013
## AUTOREN
Susanne Messmer
Susanne Messmer
## TAGS
Berlin
Gentrifizierung
Wedding
R2G Berlin
Wedding
Wedding
Wedding
Gentrifizierung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Runder Tisch Liegenschaftspolitik: Wachhund über Grund und Boden
Ein Runder Tisch hat den Ausverkauf der landeseigenen Grundstücke vor acht
Jahren gestoppt. Am Freitag tagt er zum 25. Mal.
Nun auch im Wedding: Spekulation mit Backstein
Die Uferhallen an der Panke sind verkauft worden. Zu den neuen Eigentümern
gehört auch einer der Samwer-Brüder. Die Zukunft der Künstlerinnen und
Künstler ist unklar.
Zusammenleben am Leopoldplatz: „Plätze sind Bühnen des Stadtlebens“
Gestört zu werden, gehöre zum Stadtleben dazu, sagt Stadtforscher Stephan
Lanz. Wer wie öffentlichen Raum nutzt, sei auszuhandeln.
Verdrängung in Berlin-Wedding: Berliner Mischung, adieu!
Die Gerichtshöfe sind eines der größten Atelierhäuser des Landes. Doch
daraus sollen Wohnungen für Studis werden. Am Donnerstag diskutiert das
Bezirksparlament darüber.
Kommentar Energetische Sanierung: Armut durch gedämmte Fassaden
Fassaden, neue Fenster und Aufzug lassen die Miete manchmal um 100 Euro
oder mehr hochschnellen. Die Regierung muss sich kümmern.
Wohnen in der Stadt: "Der Druck wird wachsen"
Gentrifizierung gab es schon immer, sagt Stadtforscher Bodenschatz. Doch
viele wollen heute auf einer größeren Fläche wohnen. Ein Interview aus der
neuen taz.Berlin-Wochenendausgabe.
Debatte Gentrifizierung: Permanente Verteuerung
Die Stadtverwaltungen sind aufgewacht, sozialer Wohnungsbau ist kein Tabu
mehr. Das ist prima. Das Problem lösen werden sie nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.