# taz.de -- Debatte Deutsche Bahn und Geflüchtete: Zynische Zweiklassenhilfe | |
> Gestrandete Bahnfahrer können auf Rettung hoffen – Geflüchtete aber | |
> nicht. Was sagt das über unsere Gesellschaft? | |
Bild: Wie viele von ihnen bekamen wohl tatsächlich Asyl? Flüchtlinge am Münc… | |
Vergangene Woche überraschte uns der Winter in der Lüneburger Heide mit bis | |
zu 20 Zentimetern Schnee. Züge fielen aus. In der ersten Kältenacht | |
strandeten offenbar um die 50 Fahrgäste am Hundertwasserbahnhof Uelzen, der | |
nachts verschlossen ist. Also standen die Leute, darunter Kinder, in der | |
Kälte. Das Deutsche Rote Kreuz rückte an und verteilte Heiß- und | |
Kaltgetränke. Die Familien brachte man in ein Hotel. | |
Und ich hatte ein Déjà-vu. Vor exakt einem Jahr nämlich – da waren an allen | |
großen Bahnhöfen bereits Freiwillige im Einsatz, um ankommende Flüchtlinge | |
zu versorgen und zu beraten – erfuhren ein Arzt aus dem Wendland und ich, | |
dass auch im besagten Uelzen jede Nacht Geflüchtete ankamen und nicht | |
weiterfahren konnten. Nicht etwa wegen des Wetters, sondern weil die Züge | |
nachts in Uelzen enden und in ein Depot fahren. | |
Erst gegen vier Uhr morgens nehmen sie ihre Fahrt wieder auf; von dieser | |
Eigenart des niedersächsischen Bahnverkehrs konnte niemand in Syrien oder | |
Afghanistan vorab wissen. Auch damals blieb der Bahnhof nachts geschlossen. | |
Auch damals froren auf Uelzener Bahnsteigen Erwachsene und Kinder, oft 20, | |
manchmal 40 Menschen pro Nacht. | |
Und hier endet das Déjà-vu. Das Deutsche Rote Kreuz rückte an: null Mal. In | |
ein Hotel gebracht wurden: null Flüchtlinge. Die Stadt Uelzen versorgte mit | |
Betten, Essen, Rat oder Wärme: keinen Einzigen nächtlich Gestrandeten. Wir | |
beknieten zig Stellen und Vereine, führten Dutzende von ergebnislosen | |
Gesprächen. | |
Ein Bundespolizist äußerte mir gegenüber einmal, das sei „unverantwortlich, | |
dass die Leute mit Kindern so spät reisen“. Wurde auch den Fahrgästen | |
letzte Woche „Unverantwortlichkeit“ vorgeworfen? | |
## Warum nicht gleich so? | |
Was, wenn vergangenen Winter ein Kind in der Kälte am Uelzener Bahnhof | |
umgekommen wäre? Ein Mitarbeiter vom Deutschen Roten Kreuz sagte uns damals | |
zynisch, man könne ja „jeden Tag nach Passau fahren und sich 20 neue | |
holen“. Wir versuchten, seine Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, | |
dass dies möglicherweise keine passende Einstellung für einen | |
DRK-Mitarbeiter sei. Der Effekt war, Sie ahnen es schon: gleich null. | |
Ein Netz von Freiwilligen entstand, die Nacht für Nacht, ab dem 20. | |
November fünf Monate lang, die gestrandeten Geflüchteten von den | |
Bahnsteigen abholten, im Warmen übernachten ließen, mit Essen, Pampers und | |
trockenen Socken versorgten. | |
Als ich jetzt in der Lokalzeitung las, dass das DRK die 50 Reisenden mit | |
„Heiß- und Kaltgetränken“ versorgte, wurde ich wahnsinnig wütend. Natür… | |
sei all diesen Leuten der Tee gegönnt. Aber warum kann das DRK jetzt | |
plötzlich nächtens anrücken und Tee für 50 Menschen kochen? Warum nicht | |
letztes Jahr? Haben Menschen aus Zentralafrika oder Nahost einen irgendwie | |
anderen Stoffwechsel, der ohne Flüssigkeit und Wärme auskommt? Frieren | |
afghanische und syrische Kinder anders? | |
Kommen offizielle Helfer also nur, wenn es, wie vergangene Woche, | |
unerwarteter Schneefall ist, der Menschen in eine Notlage brachte, nicht | |
aber bei einer geradezu läppischen Fluchtursache wie Krieg? | |
## Willkür und Ohnmacht | |
Die Lokalzeitung schrieb, in der vergangenen Woche habe man mit einem | |
eigens bereitgestellten Zug den Reisenden Asyl geboten. Das Wort „Asyl“ hat | |
hier einen äußerst bitteren Nachgeschmack. Wie viele von den über tausend | |
Menschen, die wir in jenen fünf Monaten für eine Nacht aufnahmen, haben | |
wohl das erhoffte Asyl erhalten? | |
Ende 2015 waren die Aufnahmequoten noch hoch; nahezu 100 Prozent der | |
Eritreer, Syrer und Iraker erhielten Asyl. Schon im April 2016 sah es, so | |
informiert pro asyl, anders aus: Da bekamen rund 16 Prozent der Syrer nicht | |
mehr den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zugesprochen, sondern | |
erhielten nur noch subsidiären Schutz; im Juni 2016 waren es dann 46 und im | |
August 2016 bereits rund 70 Prozent. | |
Diese Syrer erhalten Aufschub, viele Afghanen nicht. Zu der afghanischen | |
Sicherheitslage vertreten die deutsche Regierung und das Bundesamt für | |
Migration und Flüchtlinge (Bamf) nämlich eine ganz eigenwillige Auffassung. | |
Kein*e Bundesbürger*in würde dort Urlaub machen, und unsere Politiker, wenn | |
sie denn mal hinmüssen, hüllen sich in schusssichere Westen, bis sie | |
aussehen wie Michelinmännchen. | |
Für Nichteuropäer aber ist Afghanistan anscheinend gut genug. Seit dem | |
Abkommen Anfang Oktober gibt Europa Afghanistan Geld dafür, dass es die | |
Menschen, die dort nicht leben wollen, zurücknimmt. Wenn sie keine gültigen | |
Papiere haben, stellt man ihnen eine Art Ersatzpass aus. Nein, an der | |
Bürokratie soll es ja nicht scheitern, nicht wahr? Bis zu 50 Flüchtlinge in | |
ein Flugzeug, und weg damit! | |
## Und das nennt man „politische Lösung“? | |
Wir begegneten vielen Afghanen nachts auf dem Bahnhof in Uelzen. Ich sehe | |
ihre Gesichter noch vor mir und hoffe so sehr, dass sie bleiben durften. | |
Der Familienvater, der hyperventilierte, weil sein Sohn in Hannover | |
abhandengekommen war (er wurde wiedergefunden). Seine Frau, die nicht | |
einmal mehr Angst empfinden konnte, sondern so erschöpft war, dass sie | |
einschlief, kaum dass sie sich gesetzt hatte. | |
Das vielleicht 15-jährige Mädchen mit der Bommelmütze, wir lachten über | |
wortlose Witze. All die jungen Männer in dünnen Jacken, die uns ihren Weg | |
über Iran und Türkei in die Luft malten: Vier bis sechs Wochen hatten sie | |
oft dafür gebraucht, dort und dort lang und dann rüber nach Lesbos mit | |
einem Boot. | |
Wie kann man Menschen, die solche Gefahren und Strapazen auf sich genommen | |
haben, um herzukommen, überhaupt abweisen? So viele alteingesessene | |
Deutsche lernen mit den Neuankömmlingen Deutsch, musizieren, lesen und | |
kochen gemeinsam mit ihnen. Doch sie sind machtlos, wenn eine Behörde | |
entscheidet, dass die neuen Nachbarn und Freund*innen wieder | |
zurückgeschickt werden sollen. | |
Diese Ohnmacht, diese Willkür; all dieses Geld, das den Besitzer wechselt, | |
um Menschen unter Zwang an einem Ort festzuhalten, dem sie entfliehen | |
wollen. Und das nennt man eine „politische Lösung“? Es macht mich krank, | |
daran zu denken. | |
16 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
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