# taz.de -- Kriminologe über toten Terrorverdächtigen: „Er hätte nie nach … | |
> Der Kriminologe Thomas Feltes sagt: Mutmaßliche Selbstmordattentäter | |
> müssen ein Fall für die Bundesanwaltschaft sein. | |
Bild: Falsch untergebracht. Dschaber al-Bakr, festgenommen als Terrorverdächti… | |
taz: Herr Feltes, welche Konsequenzen sollte die Justiz aus den Fehlern, | |
die im Fall Al-Bakr gemacht werden, ziehen? | |
Thomas Feltes: Al-Bakr hätte überhaupt nicht erst in den sächsischen | |
Strafvollzug kommen dürfen. Ein gravierender Fehler war schon, dass der | |
Generalbundesanwalt den Verhafteten nicht sofort nach Karlsruhe bringen | |
ließ, das ist innerhalb von wenigen Stunden möglich. | |
Der Generalbundesanwalt argumentiert, er habe diesen Fall nach §89a erst an | |
sich gezogen, nachdem das Dresdener Amtsgericht einen Haftbefehl | |
ausgestellt hatte. Deshalb sei Sachsen zuständig. Nach dem Tatortprinzip | |
hätte der Prozess auch in Dresden stattgefunden, eine dortige Inhaftierung | |
sei üblich und sinnvoll. | |
Der GBA hätte selbstverständlich sofort wegen der besonderen Bedeutung des | |
Falls die Strafverfolgung übernehmen können und sogar müssen. Damit wäre | |
aber der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs zuständig gewesen. Der | |
GBA hätte den Beschuldigten sofort vernehmen und zu diesem Zweck nach | |
Karlsruhe bringen können. Dies wäre auch dringend geboten gewesen. | |
Was wäre in Karlsruhe anders gelaufen? | |
Natürlich hat der GBA auch nur die üblichen Haftplätze, einschließlich | |
Stuttgart-Stammheim. Aber dort gibt es Erfahrung mit Terroristen. Die | |
fehlte in Sachsen. Dort fehlte es überhaupt an allen Ecken und Enden die | |
notwendige Sensibilität für diesen besonderen Gefangen. | |
Was folgt daraus? | |
Sinnvoll wäre, diese Fälle beim GBA zu zentralisieren und dort gesonderte | |
Hafträume einzurichten, die besonders für solche Fälle geeignet sind und wo | |
es entsprechend geschultes Personal und die nötige Infrastruktur bis hin zu | |
Dolmetschern gibt. Dolmetscher gab es in Leipzig ja weder bei der Polizei | |
und auch im Strafvollzug ist erst am zweiten Tag einer aufgetaucht. Das ist | |
ein weiteres schweres Versagen. | |
Welche Konsequenzen müsste die Justiz darüber hinaus ziehen? | |
Man muss sich die Untersuchungshaftvollzugsgesetze genau anschauen mit | |
Blick darauf, was an Überwachung in solchen Fällen möglich ist. | |
Was heißt das genau? Sondervorschriften für Terroristen? | |
Damit tue ich mich schwer, weil ich das zu RAF-Zeiten hautnah miterlebt | |
habe. Aber bei Selbstmordattentätern haben wir eine andere Situation als | |
bei RAF-Gefangenen. | |
Inwiefern? | |
Das Ziel der RAF waren Repräsentanten des Staates, die RAF wollte für ihre | |
politischen Ziele werben. Bis zu den Selbstmorden in Stammheim hatten die | |
RAF-Mitglieder kein Interesse daran, sich selbst zu schädigen. Es gab zwar | |
Hungerstreiks, aber das war letztlich ein Versuch, Öffentlichkeit | |
herzustellen. Islamistische Selbstmordattentäter wollen vor allem Angst und | |
Schrecken in der Öffentlichkeit verbreiten. Sie haben keine wirklichen | |
politischen Botschaften. Ich glaube auch nicht, dass Menschen wie Al-Bakr | |
auf der Basis einer gefestigten Ideologie handeln. Bei den meisten | |
Selbstmordattentätern handelt es sich um Menschen, die im selbst Probleme | |
haben, an sich zweifeln und ihr Leben auf besonders spektakuläre Weise | |
beenden wollen. | |
Also Sondervorschriften für islamistische Terroristen? Sollten solche Fälle | |
automatisch als suizidgefährdet eingestuft werden? | |
Es muss immer der Einzelfall betrachtet werden. Wenn Al-Bakr sich nach | |
seiner Verhaftung und in der U-Haft neutral verhalten hätte, wäre die Lage | |
anders. Aber schon die Ermittlungsrichterin hatte eine Suizidgefährdung | |
festgestellt. Er hätte auf jeden Fall so untergebracht werden müssen, dass | |
er weder sich noch anderen Schaden zufügen konnte. | |
Müsste man Leute wie ihn also immer in besonders gesicherten Hafträumen | |
unterbringen? Geflieste Räume mit einem Loch im Boden als Toilette und | |
einer Matratze, sonst nichts? | |
In den ersten Stunden wahrscheinlich schon. Dann ist die Situation für den | |
Häftling besonders dramatisch, häufig verfestigen sich dann Suizidgedanken. | |
Danach müssen Fachleute einbezogen werden wie Psychologen, Personen, die | |
die Sprache sprechen, sich mit der psychischen Verfasstheit von Terroristen | |
beschäftigt haben und die den kulturellen Hintergrund bewerten können. Sie | |
müssen dann schnell mit Informationen von Geheimdiensten und Polizei | |
ausgestattet werden. Allerdings kann sich dann das Problem auftun, dass | |
Verfassungsschutz und Polizei nicht kooperieren wollen. Aber das ist | |
unbedingt notwendig. Gutachter müssen die Lebensgeschichte und Hintergründe | |
der Tat und der Person kennen, um einschätzen zu können, welche Maßnahmen | |
sinnvoll und notwendig sind. Die ersten Tage nach der Verhaftung sind im | |
Übrigen auch entscheidend dafür, ob jemand jetzt oder später bereit ist, | |
auszusagen. | |
Al-Bakr wollte anscheinend nicht aussagen. | |
Das kann sich aber ändern. Das sieht man ja am Beispiel Zschäpe, die sehr | |
lange geschwiegen hat und dann doch etwas äußern wollte, und an vielen | |
anderen Fällen. Fehler, die in den ersten Tagen gemacht werden, können nur | |
sehr schwer wieder ausgeglichen werden. Wir haben es hier nicht mit | |
Kleinkriminellen zu tun, sondern mit Personen, die einerseits sehr | |
gefährlich sind, aber auch wichtiges Wissen in sich tragen. Al-Bakr hätte | |
wertvolle Informationen zum IS und zur Struktur in Deutschland liefern | |
können. | |
Der sächsische Justizminister argumentiert jetzt mit der Menschenwürde und | |
dass deshalb eine stärkere Überwachung angesichts des Gutachtens der | |
Psychologin nicht rechtens sei. | |
Das sehe ich als reine Schutzbehauptung. Der Minister versucht zu | |
vertuschen, anstatt aufzuklären. Menschenwürde ist ein sehr vager Begriff, | |
und eine Unterbringung in einer Schutzzelle verstößt nicht gegen die | |
Menschenwürde, wenn sie notwendig ist und angemessen durchgeführt wird. Das | |
gilt auch für eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung. Wenn der JVA-Leiter der | |
Ansicht ist, dies sei notwendig, muss er eigenverantwortlich diese | |
Maßnahmen anordnen. JVA-Leiter setzen sich immer wieder über psychologische | |
Gutachten hinweg, das hätte er auch in diesem Fall tun können, wenn er | |
genügend Zivilcourage gehabt hätte. Das Leben des Gefangenen ist ein | |
wichtiges Gut. | |
In Sachsen ist die Videoüberwachung von Haftzellen nicht erlaubt, in | |
anderen Bundesländern schon. Brauchen wir einheitliche Standards? | |
Diese einheitlichen Standards wurden bei der zweiten Föderalismusreform | |
2009 geopfert, allerdings hat dies auch in anderen Bereichen des | |
Strafvollzugs gravierendere Konsequenzen. Aus meiner Sicht wird die | |
Videoüberwachung überschätzt. Ich finde eine Sitzwache sinnvoller, wo man | |
auch Geräusche und Bewegungen wahrnehmen kann. Da es in Al-Bakrs Zelle | |
dieses Gitter gab, hätte man die Tür aufmachen und einsehen können. | |
Jenseits der Untersuchungshaft wird jetzt auch über eigene Gefängnisse für | |
Terroristen diskutiert. Halten Sie das für sinnvoll? | |
Ich halte dies nicht für sinnvoll. Bereits jetzt kann der Strafvollzug | |
verurteilte Terroristen problemlos unterbringen, gegebenenfalls in | |
besonderen Abteilungen. Eine solche spezielle Anstalt ginge in Richtung | |
Guantanamo und wäre auch für die Bediensteten eine extreme Belastung. Eine | |
Sonderregelung für Islamisten ist überflüssig. | |
19 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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