# taz.de -- Seniorenpolitik in Berlin: „Wow, es lohnt sich“ | |
> Alle Berliner über 60 dürfen demnächst wieder ihre Seniorenvertretung | |
> wählen. Elke Schilling sitzt in einer und sagt: Widerstand zahlt sich | |
> aus. | |
Bild: Alle 300 Meter eine Parkbank – schön wär's | |
taz: Frau Schilling, verraten Sie mir Ihr Alter? | |
Elke Schilling: Ich bin 71. Ich bin gern so alt. | |
Warum betonen Sie das? | |
Meine Erfahrung als Seniorenvertreterin ist, dass viele Menschen sehr alt | |
werden möchten, aber niemand alt sein möchte. Der öffentliche Leumund von | |
Alter ist nach wie vor kein positiver. | |
Was ist das gängige Bild? | |
Gucken Sie doch mal in die Presse. Alter wird als etwas nicht unbedingt | |
Erfreuliches wahrgenommen: Wir sind Pflegenotstand und multimorbide. Oder | |
genau umgekehrt: Dann tummeln wir uns fröhlich und vergnügt auf den | |
Kreuzfahrtschiffen der Aida (lacht). | |
Gehören Sie auch zu der Aida-Fraktion? | |
Nein (lacht). Selbst wenn ich das Geld dazu hätte: Ich beschäftige mich | |
lieber selbst. Ich bin seit knapp sieben Jahren im Ruhestand und empfinde | |
das als eine ungeheuerliche Freiheit, raus zu sein aus dem Erwerbsleben. | |
Geldsorgen, wie viele alte Leute, haben Sie nicht? | |
Nein. Ich bin versorgt mit meiner Rente, wenn auch nicht üppig. Als Ossi | |
hat man ja nur die gesetzliche Rentenversicherung. | |
War der Übergang schwierig? | |
Ich war froh. Das lag daran, dass ich als Ex-Staatssekretärin für niemanden | |
mehr verwendbar war. Um überleben zu können, musste ich mich die letzten | |
Jahre als Organisationsberaterin selbstständig machen. Wenn man so spät mit | |
einer freiberuflichen Tätigkeit anfängt, ist das immer prekär. | |
Sie sind Vorsitzende der SeniorInnenvertretung in Mitte und Mitglied in der | |
Landesseniorenvertretung und im -beirat. Am Montag werden die Listen für | |
die nächsten Wahlen im März 2017 geschlossen. Warum treten Sie wieder an? | |
Auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben: Lobbyarbeit für Alte ist | |
sinnvoll und macht mir große Freude. | |
Obwohl das überhaupt nicht wahrgenommen wird – was darauf hindeutet, dass | |
man kaum etwas bewirkt? | |
Upps (holt tief Luft). Das ist eine eine Frage der Perspektive. | |
Wie meinen Sie das? | |
Wenn ich das mit dem Anspruch betrachte, alles verändern zu wollen, | |
bewirken wir nichts. Wenn ich aber schaue, was möglich ist, wenn wir uns | |
denn einbringen, denke ich: Wow, es lohnt sich. Sonst würde ich es nicht | |
wieder tun wollen. | |
Was haben Sie denn erreicht? | |
Hier in Mitte gibt es bekanntlich die Rentnergang von Moabit. Seit 2014 | |
setzen sich diese alten Herrschaften des ehemaligen Seniorenwohnhauses | |
Hansa-Ufer 5 erfolgreich gegen die Luxussanierung ihres Domizils zur Wehr. | |
Zum großen Teil ist das die Kriegswitwengeneration mit kleinen Renten. Beim | |
Neubezug Ende der 70er Jahre war ihnen Wohnsicherheit bis ans Lebensende | |
versprochen worden. | |
Was haben Sie damit zu tun? | |
Als Seniorenvertreterin habe ich sie massiv in ihrem Widerstand gegen den | |
Investor, die Akelius GmbH, unterstützt. | |
Wie sah das aus? | |
Die Situation, die ich damals vorgefunden habe, war so: Mehr als drei | |
Viertel der Bewohner waren zwischen 70 und 95 Jahre alt. In dem Haus gab es | |
eine alte Dame, die einen Singekreis aus Bewohnerinnen um sich versammelt | |
hatte. Das war dann die Kerngruppe des Widerstands. | |
Welches war Ihr Part? | |
Ich habe den alten Herrschaften geholfen, Kontakt zu Politik und Verwaltung | |
aufzunehmen. Meine Pressemitteilung hat mächtig Staub aufgewirbelt. Und wir | |
waren zusammen bei der Bezirksverordnetenversammlung Mitte. Mit einer | |
Internetpetition gegen die Absichten von Akelius haben wir weltweit rund | |
130.000 Unterschriften zusammenbekommen. Das Medienecho war riesig. Der rbb | |
hat in zwei Abendfolgen jeweils eine Dreiviertelstunde lang über sie | |
berichtet, mit mir als Kommentatorin. | |
Wie sah das Ergebnis aus? | |
In einem Verhandlungsmarathon wurde erreicht, dass Akelius die | |
Bautätigkeiten zunächst für zwei bis fünf Jahre einstellt und die | |
Mieterhöhungen beim normalen Maß belässt. In den zweieinhalb Jahren, die | |
die alten Herrschaften Widerstand geleistet haben, konnten etliche schon in | |
Frieden sterben. | |
Was ist mit den anderen passiert? | |
Ein paar sind ausgezogen, der Stress und die Ungewissheit waren zu groß. | |
Aber die meisten – 40 von einstmals 60 – leben dort heute noch. Sie | |
bereiten sich auf die nächste Runde vor: Akelius hat gerade eingeladen, das | |
weitere Vorgehen zu besprechen. Da bin ich wieder dabei. | |
Kommen wir zur Politik: Welche Erwartung haben Sie an die künftige | |
rot-rot-grüne Landesregierung? | |
CDU-Sozialsenator Mario Czaja hat letztes Jahr einen Dialogprozess | |
durchgeführt zur gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung der | |
Hochaltrigen, also von Menschen über 80. Das ist sehr verdienstvoll … | |
… aber? | |
Viele von uns sind imstande, sich selbst zu versorgen. 80 Prozent der Alten | |
leben bis zuletzt zu Hause. Sie bräuchten die eine oder andere Hilfe. Am | |
wichtigsten für sie sind aber Bildung, Vernetzung, Mobilität und | |
wohnortnahe Treffmöglichkeiten. | |
Woran hapert es bei der Mobilität? | |
Da geschieht eine Menge. Trotzdem ist Berlin weit davon entfernt, eine | |
altersfreundliche Stadt zu sein. Ein simples Beispiel: Es gibt eine | |
Bundesbauordnung, wonach im öffentlichen Straßenraum alle 300 Meter eine | |
Sitzbank stehen sollte. Im Berliner Landesrecht gibt es das nicht. Seit | |
vier Jahren fechte ich darum, dass in Mitte mindestens an den großen | |
Geschäftsstraßen Bänke aufgestellt werden. So könnten alte Menschen, die | |
ihre Dinge selbst einkaufen, dazwischen mal ihre Beine ausruhen. | |
Einsamkeit ist aber nicht nur ein Problem fehlender Bänke und Treffpunkte. | |
Richtig. Je älter ich werde, umso einsamer kann ich werden, weil der | |
Partner und die Freunde gehen. Und es wird schwerer, neue Kontakte zu | |
finden. | |
Wie ist das bei Ihnen? | |
Ich bin geschieden, aber ich habe zwei Kinder und fünf Enkelkinder, mit | |
denen ich mich herzlich verbunden fühle, auch wenn wir uns nicht täglich | |
sehen. Und ich bin leidenschaftliche Netzwerkerin. | |
21 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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