| # taz.de -- Gegen den Jugendwahn: Die Ästhetik des Alters | |
| > Die Choreografin Gabriele Gierz trainiert in Hamburg eine der seltenen | |
| > Senioren-Tanzkompanien. Die bietet anspruchsvollen Ausdruckstanz. | |
| Bild: Sagt, sie war nie eine Ballett-Maus: Tänzerin Gabriele Gierz | |
| Hamburg taz | Klar und deutlich dringt die Stimme durch den Raum, trotz der | |
| lauten Musik ist Gabriele Gierz gut zu verstehen: „Nicht um jemanden rum | |
| tanzen! Gleich weitermachen und reagieren!“ Kurz darauf folgt das Lob, | |
| genauso klar: “Sehr gut! Ja, schön!“ | |
| In einem lichten Probenraum im Hamburger Schanzenviertel trainiert die | |
| Choreografin mit ihrem My-Way-Ensemble. 13 Tänzerinnen und ein Tänzer | |
| improvisieren nach ihren Vorgaben. Eine der Frauen lässt sich abrupt, doch | |
| kontrolliert zu Boden fallen, nicht ungewöhnlich im zeitgenössischen Tanz. | |
| Ungewöhnlich ist allerdings ihr Alter: Die Siebzig hat sie eindeutig | |
| überschritten, da sorgt man sich einen Moment um die Tänzerin und ist | |
| zugleich beeindruckt von ihrer Waghalsigkeit. Denn im Kontakt mit dem Boden | |
| holen sich auch jüngere TänzerInnen manch blauen Fleck. Dabei zählt sie | |
| hier noch nicht einmal zu den Ältesten, zwischen 66 und 87 sind die | |
| Mitglieder. Ein festes Ensemble mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren: | |
| Das ist eine ziemlich einmalige Angelegenheit im zeitgenössischen Tanz. | |
| „Also, ich will nicht die Seniorentanztante sein!“, sagt Gabriele Gierz | |
| nach der Probe lachend. Aber sie meint es ernst. Seit zehn Jahren arbeitet | |
| sie mit den „TänzerInnen mit Lebenserfahrung“, wie Gierz sie nennt. Es sind | |
| keine Profis. Aber sie macht auch keine Sozialarbeit. „Ich will Kunst | |
| machen, ich will eine exquisite Kunst machen“, sagt sie. „Und für mich | |
| heißt Kunst nicht, den Egotrip eines Künstlers zu bedienen. Das ist sicher | |
| auch Kunst, aber ich möchte darüber hinaus eine Kunst machen, die mehr als | |
| das ist, was ich alleine schaffen kann, die aus einer Synergie entsteht.“ | |
| Gabriele Gierz blickt offen. Ihre Betonung ist facettenreich, auch wenn sie | |
| leise spricht. Fast melodiös klingt das, die badische Einfärbung verstärkt | |
| diesen Eindruck. Wenn sie über ihre Vorstellungen von Kunst redet, darüber, | |
| wie sie ihre Arbeit mit den älteren TänzerInnen sieht, klingt sie bestimmt. | |
| Und als sie von ihrem Werdegang erzählt, wird deutlich, dass ihr Weg sie | |
| nicht zufällig dahin geführt hat. | |
| ## Auf Drängen der Eltern | |
| Mit 18 Jahren wusste Gabriele Gierz, dass sie professionell tanzen will – | |
| das ist spät. „Für den traditionellen Tanz“, sagt sie und meint das | |
| Ballett, „ist man da schon jenseits von Gut und Böse.“ Es war zum Abschluss | |
| eines Workshops für modernen Tanz, als sie sich zu ihrem Erstaunen sagen | |
| hörte: „Das ist es, was ich im Leben machen will.“ | |
| Nur auf Drängen ihrer Eltern machte sie zuvor „was Richtiges“: eine | |
| Ausbildung zur Verlagskauffrau, für sie verschwendete Zeit. | |
| Danach war klar, „jetzt geht’s an die Kür“: Sie ist 21, als sie in Wien … | |
| Ausbildung als Tanzpädagogin für modernen Ausdruckstanz beginnt. Gelehrt | |
| wird nach dem Chladek-System, das die Tänzerin und Tanzpädagogin Rosalia | |
| Chladek in den 1930er-Jahren entwickelte, eine Tanztechnik, die sich vom | |
| klassischen Ballett emanzipierte. In Straßburg studierte Gierz auch bei der | |
| Meisterin persönlich. „Das war dann echt mein Ding“, erzählt sie. „Ich … | |
| auch stolz: Ich war keine Ballettmaus, ich war eine, die auch gedacht hat.“ | |
| Sie ahmt die Inbrunst der jungen Frau nach, die sie damals war, eine warme | |
| Selbstironie. | |
| „Wir waren zwar tänzerisch nicht so fit wie im Ballett, aber das war ein | |
| ganz anderes Selbstverständnis: Nicht Material sein, nicht funktionieren, | |
| sondern selber kreieren!“ Dieser Blick auf den Tanz ist ein Leitfaden ihrer | |
| Arbeit geworden. Er prägt ihre eigenen Stücke – wie zuletzt das Solo | |
| „Kirschen essen mit Rosalia“, in dem sie die Zeit mit der „Meisterin“ | |
| verhandelt –, ihre Kurse und Workshops für Laien und Profis, ihre Arbeit an | |
| Schulen und die mit dem My-Way-Ensemble. | |
| ## Stoff für den Kopf | |
| Nach der dreijährigen Ausbildung folgten Stationen in Hamburg und Freiburg. | |
| Schon damals machte sie ihre eigenen Performances und unterrichtete, immer | |
| in den prekären Verhältnissen der freien Szene. Und sie studierte | |
| Theaterwissenschaften, Psychologie, Philosophie: Stoff für den Kopf. Körper | |
| und Intellekt ergeben für sie nur zusammen ein Ganzes. | |
| So führte ihr Weg sie Mitte der 1990er-Jahre in die USA, wo der Tanz | |
| bereits an den Unis angekommen war. Entgegen dem Reglement schaffte sie es, | |
| als Gastdozentin an der Ohio State University in Columbus zu lehren. Und | |
| entschloss sich zum Studium, Modern Dance und Choreografie – da ist sie | |
| Anfang 30. | |
| Nach fünf Jahren zurück in Hamburg wich die Euphorie, das Gefühl, ihr | |
| stünden alle Türen offen, angesichts der mühsamen Existenz in der freien | |
| Tanzszene. „Und dann wurde ich ziemlich krank. Ich habe Leukämie gekriegt“, | |
| erzählt Gabriele Gierz. Etwa ein dreiviertel Jahr „ging gar nichts“, sie | |
| bekam starke Chemotherapien. Damals, sie war Ende 30, sei es darum | |
| gegangen, „sich offen zu machen für was auch immer geht, weg vom Ehrgeiz, | |
| hin zu einer Lebensqualität“. | |
| Als es ihr besser ging, sie wieder zu tanzen begann, fragte sie sich: | |
| „Geht’s noch oder geht es nicht?“ Der Körper hatte ja versagt, hatte sie… | |
| Stich gelassen. „Da kann ich nicht sagen, ich bin wieder da, sondern: Ich | |
| wäre gerne wieder da und tue alles dafür. Aber ich muss auch mit meinen | |
| Ressourcen haushalten.“ | |
| Diese Erfahrung, „immer wieder anzufangen, auch mit Kleinem“, komme | |
| Gabriele Gierz heute bei der Arbeit mit den SeniorInnen zu Gute. Sie wisse | |
| zwar nicht, wie es sich in einem alten Körper anfühle, aber der ihre „wurde | |
| richtig platt gemacht“. Sie hat selbst erfahren, wie mühsam, aber auch | |
| lebenswichtig es ist, die eingeschränkten Möglichkeiten immer neu | |
| auszuloten, statt im Nichtstun zu verharren. | |
| Die Erfahrung der Krankheit hat ihr ein besonderes Verständnis für die | |
| älteren TänzerInnen vermittelt. Die Idee von Tanz als Kunstform jenseits | |
| einer Leistungsschau perfekter Körper leitet sie aber schon länger. „Ich | |
| wollte was Positives in die Welt bringen“, sagt sie. Das Gegenteil von der | |
| Scham, die beim Tanz so oft wirkt: dieses Immer-genügen-müssen. Immer sind | |
| andere besser, schneller, schlanker. | |
| „Wenn ich unterrichte, soll da keine Scham sein“, sagt sie. „Und trotzdem | |
| habe ich eine unglaubliche Lust an Leistung!“ Aber ohne ein | |
| hundertprozentiges Einlassen könne keine Kunst entstehen. Das gelte auch | |
| für die Arbeit mit den SeniorInnen. | |
| Ein Stück mit ihnen zu entwickeln stellt sie vor besondere | |
| Herausforderungen, denn natürlich sind die körperlichen Möglichkeiten | |
| eingeschränkt. Der Körper habe aber im Alter „per se eine | |
| Ausdrucksqualität“, sagt Gierz. „Da ist die ganze Lebensgeschichte drin.“ | |
| Sie bezieht diese Individualität, die darin liegende Verweigerung der | |
| Uniformität als bereicherndes Element in ihre Choreografien mit ein. Sie | |
| ist damit eine Seltenheit. | |
| Denn so sehr sich der zeitgenössische Tanz den Bruch mit geltenden | |
| ästhetischen Normen auf die Fahnen geschrieben und Vorstellungen über | |
| schöne Bewegungen verrückt, Körperbilder offener gemacht hat: Alte Körper | |
| sieht man kaum auf der Bühne. Mit Mitte 30 ist die aktive Tanzkarriere | |
| meist beendet. | |
| Gierz selbst hält sich nicht daran. Mit Anfang 50 ist sie gerade dabei, ihr | |
| Solostück auszubauen. Und mit ihren SeniorInnen sprengt sie das gängige | |
| „perfekt angeglichene Bewegungsvokabular“. Der Tanz im Alter birgt für sie | |
| einen neuen künstlerischen Raum. Den will sie öffnen und ihm Anerkennung | |
| auch innerhalb der Tanzszene verschaffen. Und seit einiger Zeit publiziert | |
| sie ihre Kenntnisse. | |
| So sind bislang vier abendfüllende Produktionen des My-Way-Ensembles | |
| entstanden, die mehrfach im Hamburger Sprechwerk zu sehen waren. Dem voraus | |
| geht eine stets intensive Phase der Themenfindung, in die die TänzerInnen | |
| stark einbezogen sind. In den Wochen vor der Aufführung probt die Kompanie | |
| bis zu acht Stunden täglich. | |
| „Der Tanz“, sagt Gabriele Gierz, „ist wie ein Lebenselixier.“ Und es | |
| schwingen viel Zuneigung und Respekt mit, als sie hinzufügt, dass ihre | |
| „Alterstruppe“ ihr auch ein Vorbild ist. „Es ist möglich“, sagt sie. �… | |
| muss nicht im Alter auf dem Sofa sitzen und warten, wie bald es das jetzt | |
| war.“ | |
| 16 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Carola Ebeling | |
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