# taz.de -- Schiffsunglück vor Ägypten: „Er war nur 15 Jahre alt“ | |
> Vor Ägyptens Küste ist ein Flüchtlingsboot gekentert. Dutzende ertrinken. | |
> Unklar ist, wie viele Menschen an Bord waren. Angehörige trauern. | |
Bild: Angehörige der Menschen, die versuchten, mit dem Schiff nach Europa zu g… | |
KAIRO taz | Noch weiß niemand genau, wie viele Flüchtlinge und Migranten | |
ertrunken sind, nachdem ihr Schiff östlich der Hafenstadt Alexandria unweit | |
der ägyptischen Küste gekentert ist. In See gestochen ist es in dem Ort | |
Borg El-Meghasi, der als Schlepperdorf bekannt ist. Noch kursiert die Zahl | |
des Armeesprechers, laut dem 163 Menschen gerettet und 42 Leichen aus dem | |
Meer geborgen wurden. | |
Diese Zahl der Todesopfer könnte noch dramatisch nach ober schießen. Die | |
entscheidende Frage ist, wieviele Menschen tatsächlich an Bord des Schiffes | |
waren, das für maximal 50 Menschen ausgelegt war. Die Berichte variieren: | |
zwischen 300 und 600 Passagiere sollen es gewesen sein. Es könnten also | |
noch bis zu 400 Menschen vermisst sein, wenn tatsächlich 600 an Bord waren. | |
[1][Vier Personen wurden im Zusammenhang mit dem Unglück festgenommen]. | |
Wenige Stunden nach dem Unglück kursieren in den sozialen Medien in Ägypten | |
bereits die ersten Videos zu dem Unglück. Eines zeigt die Einfahrt eines | |
Fischkutters in den Hafen, übervoll mit Geretteten. Einer der Fischer aus | |
Borg El-Meghasi sagt: „Das ist nur ein Teil von denen, die auf einem | |
einzigen Schiff waren. Das waren nicht zehn Flüchtlingsboote, all diese | |
Menschen waren auf einem Schiff. Auf einem Boot das kleiner ist als dieser | |
Fischkutter waren 550 Menschen drauf. Manche hier im Dorf sagen, es waren | |
sogar 600.“ Die meisten würden immer noch vermisst. | |
Der ägyptische Fischer ist sichtlich aufgebracht. „Weder die Regierung, | |
noch die Armee hat die Leute gerettet. Das waren unsere Fischer, die | |
rausgefahren sind. Ich sage das nur, weil sie (die Behörden, Anmerkung der | |
Redaktion) in den Medien erzählen werden, dass die Marine, die Armee und | |
die Polizei das gemacht hat.“ | |
## Die Flasche im Meer | |
In den ägyptischen Fernsehstationen kommen die Überlebenden zu Wort, die | |
ins Krankenhausder Küstenstadt Rosetta gebracht wurden. Weil sie ein | |
Verfahren wegen illegalen Grenzübertrittes erwarten müssen, sind sie mit | |
Handschellen an die Betten gekettet. Ein junger Mann beschreibt seine | |
Odyssee: „Es war ausgemacht, dass ich für die Überfahrt umgerechnet 1.500 | |
Euro zahle, aber nur wenn ich angekommen bin“, sagt er. Er sei mit einem | |
kleinen Schlauchboot losgefahren. Dann seien sie auf ein Holzboot umgeladen | |
worden, um die 150 Leute, erinnert er sich. „Anschließend fuhren wir | |
eineinhalb Stunden zu einem größeren Boot raus. Da waren bis zu 500 | |
Menschen drauf. Wir sind bis sechs Uhr morgens weitergefahren, bevor es | |
gesunken ist“, schildert er. Sein Glück war eine größere Flasche, die er im | |
Meer zu greifen bekam. „Ich bin losgeschwommen, dann habe ich diese Flasche | |
gesehen, habe sie ganz ausgeleert und sie unter meinen Bauch gelegt“. Das | |
habe ihm das Leben gerettet. | |
Auch der 27-jährige Ahmad Darwish hat überlebt. In dem Moment als das Boot | |
kenterte, herrschte totales Chaos. „Alle sind im gleichen Moment | |
aufgesprungen“, sagt Darwisch. „Ich bin sofort vom Schiff weggeschwommen, | |
weil ich Angst hatte, dass mich jemand in Panik unter Wasser zieht“. Im | |
Wasser begegnete er einem Mädchen, dessen Eltern ertrunken sind. „Ich bekam | |
einen Rettungsring zu greifen und habe das Mädchen zu mir gezogen. Wir | |
haben beide gebetet.“ Das Wort „Gott“ bekomme in einem solchen Moment eine | |
besondere Bedeutung. „Er war der einzige der uns gesehen hat, sonst war | |
niemand da.“ Später wurden die beiden dann doch noch von Fischern gefunden | |
und aus dem Wasser gezogen. | |
Darwish erzählt auch von den jungen Schleppern. Einer, der auch ertrunken | |
ist, war gerade einmal sieben Jahre alt. Es ist eine übliche Taktik der | |
großen Schlepper, auf den Schiffen vor allem Minderjährige einzusetzen. | |
Denn wenn die Boote von der europäischen Marine aufgebracht werden, kommen | |
sie nicht als Schlepper in italienische Gefängnisse, sondern werden in die | |
Schule gesteckt. Die italienischen Behörden behandeln sie als Opfer der | |
Schlepperbanden. Aber wenn es gut läuft und sie den Weg zurückschaffen, | |
können sie bis zu 500 Euro für eine Tour verdienen. | |
Für die großen Schlepper und Bootsbesitzer sind das geringe Ausgaben. Sie | |
verdienen an einer Fuhre mit ihren überladenen Kuttern von der ägyptischen | |
Küste nach Italien bis zu 300.000 Euro. „Damit verdienen wir besser als mit | |
dem Drogenhandel“, erklärte einer von ihnen vor einigen Monaten gegenüber | |
der taz bei einem Besuch im Schlepperdorf Borg El-Meghasi. | |
Das und die Verzweiflung der Flüchtlinge und Migranten ergibt eine | |
Motivation, die sich kaum bremsen lässt. Zwar kommen immer noch die meisten | |
Flüchtlinge über Libyen, auch weil der Weg von Ägypten nach Italien länger | |
und gefährlicher ist. Aber aufgrund des politischen Chaos' in Libyen, wird | |
die ägyptische Passage immer populärer. Kamen letztes Jahr gerade einmal | |
drei Prozent der Flüchtlingsschiffe, die in Italien ankamen, aus Ägypten, | |
so hat sich diese Zahl in den letzten Monaten verdoppelt. | |
## Wenig Chancen in Ägypten | |
Das liegt sicher auch daran, dass das Leben der afrikanischen und syrischen | |
Flüchtlinge in Ägypten sehr hart ist. Es gibt keinen legalen Zugang zum | |
Arbeitsmarkt und für die Afrikaner und deren Kinder auch keine Zugang zum | |
öffentlichen Bildungssystem. Finanzielle Unterstützung gibt es nur für die | |
beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR registierten Flüchtlinge. Ein | |
unbegleiteter minderjähriger Flüchtling erhält gerade einmal 40 Dollar im | |
Monat. Eine alleinerziehende Frau mit vier Kinder erhält gar nichts. Erst | |
ab fünf Kindern gibt es Geld und nur so wenig, dass eine Familie davon | |
nicht leben kann. | |
Im ägyptischen Fernsehn wurde Usama Ghoneim interviewt, dessen Bruder | |
Muhammad jetzt ertrunken ist. „Muhammad hat einen Vater und sechs | |
Geschwister. Muhammad ist losgefahren und nicht zurückgekommen. Er war nur | |
15 Jahre alt“, erzählt Usama. Er hatte keine Arbeit, nichts zu tun, keine | |
Perspektive. „Er wollte einen neuen Ort zum Leben für sich und seine | |
Familie finden. Eine Familie, die ärmer ist, als ihr euch das vorstellen | |
könnt.“ Er wäre lieber an seiner Stelle gestorben, fügt er hinzu. „Unser | |
Schicksal ist in Gottes Hand und er wird für Gerechtigkeit sorgen“, | |
wiederholt dreimal gegenüber dem Fernsehmoderator. Beim dritten Mal bricht | |
seine Stimme. | |
22 Sep 2016 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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